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Inhalt

Ein Dorf im protestantischen Norden Deutschlands. 1913/14. Vorabend des ersten Weltkriegs. Die Geschichte des vom Dorflehrer geleiteten Schul- und Kirchenchors. Seine kindlichen und jugendlichen Sänger und deren Familien: Gutsherr, Pfarrer, Gutsverwalter, Hebamme, Arzt, Bauern – ein Querschnitt eben. Seltsame Unfälle passieren und nehmen nach und nach den Charakter ritueller Bestrafungen an. Wer steckt dahinter?
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Quelle: themoviedb.org

Kritik

Wie sind wir zu den Menschen geworden, die wir heute sind? Michael Haneke (Happy End) enträtselt diese Frage mit seinem mehrfach preisgekrönten Das weiße Band nicht, aber er stellt eine Versuchsanordnung dahingehend an. Eine Ursachenforschung. Bedeutet das nun, dass der österreichische Autorenfilmer tatsächliche merkliche Anstalten eingeht, die Seherfahrung des Zuschauers bekömmlicher zu gestalten? Ganz gewiss nicht. Genauso wenig, wie Michael Haneke es hier darauf anlegt, ein klassisches Historien-Drama in die kontrastreiche Schwarzweiße-Bildwelt zu hüllen. Stattdessen muss man sich als Rezipient erneut durch einen Film „mühen“, der bis in die letzte Einstellung von intellektueller Weitsicht durchströmt wurde. Ein Film, der nicht nur, so wie es der Beititel verlauten lässt, Eine deutsche Kindergeschichte erzählt, sondern eine so universelle wie überzeitliche. Das weiße Band ist eine Geschichte der Gewalt.

Angesiedelt in einer protestantischen Gemeinde im Norden Deutschlands namens Eichwald (also dort, wo sich Eichmann und Buchenwald bereits phonetisch Gute Nacht sagen), erzählt Das weiße Band im Laufe seiner fast 140-minütigen Laufzeit eben genau über das Leben im hiesigen Soziotop. Die Menschen hier scheinen ohne jede Eigendynamik auszukommen, stattdessen sind sie alle auf ihre Funktionen heruntergebrochen: Der Arzt, der Lehrer, der Pfarrer, die Hebamme. Und natürlich die Kinder, die bezeichnenderweise alles sein dürfen, nur keine Kinder. Der einzige Charakter, der sich immerhin anschickt, aus dem sittenstrengen Kosmos der Dorfgemeinschaft auszubrechen, ist der junge Lehrer (Christian Friedel, Babylon Berlin), der gleichzeitig auch als Off-Kommentator des Films fungiert. Nur ihm gesteht Haneke den Impetus zu, den Versuch zu unternehmen, aus dieser von der Außenwelt hermetisch abgeriegelten Siedlung auszubrechen.

Wir, die Zuschauer, treffen in Eichwald zu einer Zeit ein, in der die Gemeinde von „seltsamen Ereignissen“ heimgesucht wird. Menschen sterben, Unfälle ereignen sich, Menschen werden misshandeln, Suizide, Anschläge. Wer die Urheber dieser Vorkommnisse sind, lässt Michael Haneke selbstverständlich offen, allerdings sind zwei Aspekte offenkundig, wenn es um jene Ereignisse geht: Nicht nur weigern sich die Dorfbewohner ernsthafte Ermittlungen in die Wege zu leiten, es sind auch gleichwohl immer die Kinder, die in direkter Näher anzutreffen sind, wenn sich eines jener „seltsamen Ereignisse“, die sich ebenso gut als Verbrechen beschreiben lassen, ereignet. Ein Zufall? Oder sind es womöglich die Kinder, die sich, an diesem Vorabend des Ersten Weltkrieges, für all den Schrecken in Eichwald verantwortlich zeigen, den das Dorf doch so gerne unter den Tisch kehren möchte? 

Die Geschichte über das (oberflächlich beschauliche) Eichwald versteht sich als eine, in der Unterdrückung und Tod dominieren. Das soziale Miteinander wird von rigiden Machtstrukturen reglementiert – und wer sich nicht fügt, muss gezüchtigt werden. Schon immer waren die Filme von Michael Haneke Studien der Gewalt, Das weiße Band allerdings hebt diesen diffizilen Themenkomplex auf ein neues, vielfach konnotiertes Level. Denn obgleich Das weiße Band in der Vergangenheit lokalisiert ist, entfaltet sich dieser Film im Brennglas der Gegenwart und hinterfragt ganz gezielt, wie die kindliche Berührung mit Gewalt nicht nur das Individuum, sondern eine ganze Generation, ein ganzes Land, prägen kann. Das protestantische Dorf jedenfalls ist ein Nistplatz der Radikalisierung: Wenn Kinderaugen nicht mehr in der Lage sind, zu strahlen, sondern nur noch Zorn ausdrücken, kann der nächste Gertenhieb bereits zur Ideologie gerinnen.

Michael Haneke inszeniert das mit der Präzision eines Seziermessers, wenn er gesellschaftliche wie innerfamiliären Autoritäten durchleuchtet, den schwierigen Fragen aber einfache Antworten vorenthält. In asketischen Aufnahmen, die oftmals so eingefroren und entlebt wirken, wie die Herzen der Bewohner, veranschaulicht Das weiße Band akkurat, wie folgenschwer extreme Erziehungsmethoden für die Nachwelt sein können. Die Kinder in Das weiße Band, die übrigens schauspielerisch Hervorragendes abliefern, mussten Zeit ihres (kurzen) Lebens erkennen, dass die Gewalt ein Mittel der Kommunikation ist und dort eingesetzt wird, wo die verbale, die intellektuelle Verständigung ihre Grenzen erreicht. Gewalt ist das ultimative Argument und damit eine der fehlgesteuertsten Machtdemonstrationen überhaupt. Und womöglich ist genau das die Tragik, die Das weiße Band anspricht: Kindern eine entartete Idee von Macht zu unterbreiten, denn auch sie werden irgendwann ihre Macht beweisen wollen: Morgen, heute, in 30 Jahren.

Fazit

Ein bedrückendes Stück Weltkino. Michael Haneke zeichnet sich, wie so häufig, für ein Werk verantwortlich, welches vor allem noch Stunden, Tage, Wochen nachreift. Seine Reflexion über die Macht von Gewalt, die Kinder ansteckt und später ein ganzes Land ins Verderben reißen kann, ist keine deutsche, sondern eine universale Geschichte. Wer sich die Zeit nimmt, Hanekes schwierige Fragen anzunehmen, wird mit einem Film belohnt, der sich bis in die Eingeweide frisst. Historienkino als analytischer Horrorfilm.

Kritik: Pascal Reis

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