1. Unter keinen Umständen zurückschauen.
2. Kein Wort darüber, wo wir herkommen.
3. Lass die alten Urteile ruhen und umarme das Neue.
Bei seinem Spielfilmdebüt lehnt sich der auch als Co-Autor aktive Regisseur Philipp Hirsch weit über den Tellerrand der deutschen Kino-Komfort-Zone heraus, was eventuell einen hohen Preis einfordern könnte. Ob es einen flächendeckenden Kinostart geben wird, speziell auf Multiplex-Ebene, bleibt abzuwarten bis eher zu bezweifeln. Wahrscheinlich wird er im Sparten-Programm relativ schnell verschwinden und irgendwann als Geheimtipp an anderer Stelle wiederentdeckt werden. Was eine bedauerliche, aber realistische Prognose ist, denn Raus hat jetzt schon Chancen auf eine Top-Ten-Platzierung in den 2019-Kinostarts…wenn er denn als solcher überhaupt wahrgenommen wird.
Hauptsache dagegen, Hauptsache anders, Hauptsache irgendwas. So wird im schnellen, aber präzisen Verfahren Protagonist Glocke (Matti Schmidt-Schaller, 25 km/h) eingeführt, der in erster Linie nur seine Jungfräulichkeit verlieren und somit bei einer linken Extrem-Aktivisten landen will, dadurch aber unfreiwillig zur Social-Media-Lachnummer und gleichzeitig steckbrieflich gesuchten Staatsfeind wird. Gemeinsam mit seinem Kumpel Paule (Enno Trebs, Tiger Girl) taucht er aus Furcht vor der Strafverfolgung wie der Scham ab. Folgt dem Online-Aufruf des ominösen Aussteigers Friedrich, der seine Jünger dazu auffordert, seinem Pilgerpfad der anarchistischen Selbstfindung quer durch die Wälder des Harz zu folgen, um an dessen Ende das gelobte Land eines besseren, von allen weltlichen und kapitalistischen Zwängen befreiten Shangri La zu erreichen. Gemeinsam mit drei anderen, ihnen völlig fremden Wagemutigen starten sie den Ausbruchsversuch, der allerdings weniger mit ihrer Umgebung, sondern mit ihnen selbst zu tun hat. Und vor sich selbst lässt sich schwer weglaufen, aber das erlebt man besser (bzw. effektiver) am eigenen Leib. Dann aber häufig auf die unbequeme Weise.
Schon früh „outet“ sich dieses frische und vitale Debüt stilistisch wie inhaltlich als Gegenentwurf zum oftmals standardisierten, stinklangweiligen und minderwertigen Deutsch-Kino abseits der klitzekleinen Independent-Branche. Denn Raus präsentiert sich so selbstbewusst. Er will wirklich gesehen werden, von möglichst vielen Menschen, obwohl das fast so utopisch klingen mag wie die Mission des verirrten und verwirrten Quintetts. Die alle behaupten starke Persönlichkeiten zu sein, aber im Grunde nur auf der Flucht vor sich selbst sind. Etwas verbergen und vergessen machen wollen. Sich versuchen neu zu erfinden; hilflos und sich deshalb Hals über Kopf in eine Idee, in eine Phantasie stürzen bis verrennen, ohne Gewähr und Garantie was am Ende auf sie warten wird. Der Aufprall kann nur schmerzhaft werden. Dafür sind sie alle, ist das ganze Szenario zu sehr prädestiniert. Was aber keine negative Rolle spielt im Sinne der Plotentwicklung, denn der Film hantiert sehr überlegt mit sogar als Suspense zu betitelten Momenten. Wir ahnen und wissen letztendlich, worauf das (grob) hinauslaufen wird, aber trotz sogar einer relativ faustdicken Überraschung ist hier der Weg eindeutig das Ziel, in mehrfacher Hinsicht.
Raus ist nicht nur in seinem faktischen Inhalt purer Eskapismus, er ist es fast auf einer Meta-Ebene. Strampelt sich frei von gängigen, kommerziell scheinbar notwendigen Zwängen, um frisches und dennoch an klassischen Motiven orientiertes Kino unabhängig von Erwartungshaltungen zu etablieren. Moderne Gesellschaftsflucht-Metaphern wie The Beach oder Into the Wild treffen auf zeitlos-zerstörerische Konflikte wie in Herr der Fliegen, alles aber angepasst und glaubhaft übertragen auf die heutige Zeit. In der selbst (inzwischen) erwachsene Menschen schon durch „soziale“ Medien eigentlich so asozial und weltfremd anti-erzogen wurden, dass sie echte Probleme bekommen, wenn es back to basic geht und ein etwas überspitzer Camping-Ausflug in den Harz bereits (glaubhaft) Grenzen auslotet, über die man vor 20 Jahren nicht mal im Traum diskutiert hätte. Raus bedient clever und eindringlich seine schlau aufgebaute Geschichte und steigert sie konsequent, ist aber gleichzeitig auch ein mahnender Appell an den Irrsinn, der offenbar gar nicht mehr als solcher wahrgenommen wird. Demaskiert falsche Götzenbilder (von einem klassischen Macguffin mag man gar nicht sprechen, zu wichtig bleibt die Funktion als gottesgleiches Symbol) und entlarvt eine angeblich moderne und selbstbewusste, aber eigentlich nur sehnsüchtig nach Anerkennung, Geborgenheit, Zuneigung und ehrlicher Relevanz buhlende Generation als einen traurigen, orientierungslosen Haufen, unter dessen Oberfläche sogar ein latent hohes Eskalations- und Gewaltpotenzial schlummert. Spätestens wenn auch die letzte Brücke zum Luftschloss zertrümmert ist und sie alle als posende, verlogene und sinnsuchende Scharlatane nackt dastehen. Aber genau dann findet der Film sogar diesen hoffnungsvollen Schimmer, dass seine ganzen Ideale nicht als pure Idiotie gebrandmarkt werden müssen. Sie stehen aber zur Debatte. Und das sollten sie auch.