„Willkommen im Hierarchiekeller.“
Während der amerikanische Serienmarkt quasi im allmonatlichen Turnus ein neues Qualitätsformat veröffentlicht, scheint man sich in Deutschland damit zu begnügen, gelegentlich durch den inländischen Output einmal auf sich aufmerksam zu machen, bevor die Routine dieses Metiers erneut die Oberhand gewinnt. Mit Babylon Berlin von Tom Tykwer (Lola rennt) beispielsweise hat man es zuletzt außerordentlich gut verstanden, wie eine Machtdemonstration dahingehend aussehen könnte, wenn man denn den eigenen Ruf in diesen seriellen Gefilden ein Stück weit aufpolieren und über die Grenzen des eigenen Landes hinaustragen möchte. Auch Dark, 4 Blocks oder Deutschland 83 fanden genügend Verfechter, korrigierten das produktive Ungleichgewicht zwischen Deutschland und Übersee im Großen und Ganzen aber nicht im geringsten. Uns fehlt der moderne Klassiker, könnte man meinen, gäbe es nicht Dominik Graf (Die Katze).
Der nämlich hat bereits im Jahre 2010 die Muskeln spielen lassen und mit Im Angesicht des Verbrechens eine Serie geschaffen, die sich in ihren besten Momenten (und davon gibt es unzählige) nicht vor der Mutter des Qualitätsfernsehens, The Wire, verstecken muss. Grafs Definition von TV-Kino, wie er es nennt, liegt dabei auf der Hand: Er will Stoffe, die eigentlich für die große Leinwand bestimmt scheinen, auf der Mattscheibe kultivieren. Sieht man sich Im Angesicht des Verbrechens an, dann wird man schnell merken, dass sich das Format weniger an klassischen Serienstrukturen orientiert, sondern vielmehr den horizontalen Erzählstrategien eines Spielfilms folgt, hier also quasi in der Aufbereitung eines TV-Mehrteilers. Bezeichnenderweise war es genau diese Serie, die ihrer Zeit eine leidenschaftliche Diskussion lostrat, inwiefern das Publikum bereit ist, sich in eine derart anspruchsvolle Materie einzufühlen.
Und anspruchsvoll ist die adäquate Vokabel, spinnen Dominik Graf und sein Drehbuchautor Rolf Basedow hier doch ein mit größter Sorgfalt angefertigtes Gespinst aus Gesetz und Kriminalität, aus beruflicher und privater Lebensrealität, aus Liebe und Hass, Leben und Tod. Katalysatoren der Handlung sind die Berliner Polizisten Marek Gorsky (Max Riemelt, Die Welle) und Sven Lottner (Ronald Zehrfeld, Barbara), die ihre Chance wittern, dem Straßen- und Schreibtischdienst zu entkommen und sich um die ganz schweren Jungs zu kümmern: Sie ermitteln im Milieu der russischen Mafia. Dass Mareks Schwester Stella (Marie Bäumer, 3 Tage in Quiberon) ausgerechnet mit Mischa (Misel Maticevic, Im Schatten), einem der Paten dieser organisierten Verbrecherkreise, verheiratet ist, gestaltet die Situation ungleich verzwickter. Ganz davon abgesehen, dass Marek ebenso von Rachegefühlen getrieben ist.
Beeindruckend an Im Angesicht des Verbrechens ist, wie kleinteilig und feingliedrig sich Dominik Graf mit den kriminellen, polizeilichen und menschlichen Geflechten über 10 Episoden, das sind fast 500 Minuten, auseinandersetzt. Seine Leidenschaft für das 1970er Jahre Kino thront unverkennbar über der Serie, im Existenzialismus des Szenarios, im treibenden Klangteppich, in der Ambivalenz der Charaktere, im Split-Screen-Verfahren, in der kinetischen Montage. Dass Im Angesicht des Verbrechens aber eben nicht einfach „nur“ eine pulpige Hommage an diese Ära ist, sondern eine Ausnahmestellung innerhalb der deutschen Kulturlandschaft einnimmt, ergibt sich aus der Aufmerksamkeit, die Graf den Protagonisten und ihrem sozialen Umfeld entgegenbringt. Alle Parteien sind hier insofern miteinander verzahnt, als dass sie versuchen, ihr individuelles Glück zu finden, dabei aber nicht die Grundsätze ihres ethischen Wertesystems unterminieren möchten. Was hier funktioniert und dort kläglich scheitert.
Der Bewegungsdrang, welcher sich in das inszenatorische Wesen von Im Angesicht des Verbrechens eingestampft hat, entfesselt gerade in der Verstrebung mit dem wunderbaren Lokalkolorit der Hauptstadt, den unzähligen Sets und Figuren, ein nahezu schicksalhaftes Klima innerhalb der unausweichlichen Kollision von Persönlichkeiten, Idealen und Boshaftigkeiten: Wo von Ehre gesprochen wird, kann auch deren Verlust nicht weit sein. Dominik Graf schreibt hier nicht nur Genre-Geschichte, er beleuchtet moralische Schattierungen und gibt sich dabei Kitsch (unvergesslich: der Rosenblütenregen), Brutalitäten und kulturellen Eigenarten immer haarscharf bis an den Rand der Überstilisierung hin. Graf weiß, wann genug ist. Und Graf weiß vor allem, wie Dynamik im ständigen Wechselspiel aus Aufpeitschen und Verschleppen entsteht. Deswegen ist Im Angesicht des Verbrechens nicht nur im besten Sinne europäisch. Es ist fraglos universal.
„Ich bin Polizist. Ich habe keine Phantasie, keinen Spaß.“