Bildnachweis: © Fine Line Features/ Independent Pictures

Bilder des Zerfalls: Im Klammergriff der Kontroverse - Teil 1

von Pascal Reis

„Das sind zwei Brüder, die ihre Eltern umgebracht haben. Sie haben ein tolles Leben. Ich weiß nicht, was falsch gelaufen ist.“

Solomons Stimme aus dem Off ist nicht mehr als ein Hauchen. Kurz nachdem er das sagt, fangen die beiden Brüder an, sich in ihrer Küche zu prügeln. Erst ist es nur ein Knuffen, aber dann steigern sie sich herein und schlagen sich mit den Fäusten ins Gesicht. Ein tolles Leben, sagt Solomon, dessen Name „Frieden“ bedeutet. Oder auch „der Friedvolle“. Die Tatsache, dass sein Name, sein Ursprung sozusagen, in einem so starken Kontrast zu seinem tagtäglichen Verhalten steht, wenn er tote Katzen mit Stöcken prügelt, zeigt in aller Deutlichkeit, die Macht seines Umfeldes. Denn während man in diesem Film hauptsächlich Kindern folgt, sind es doch eigentlich deren Eltern und die Erwachsenen, über die man am meisten lernt. Als ein Kind ist man nämlich gewissermaßen ein Spiegelbild seiner Eltern. Kinder adaptieren deren Verhalten und deren Wortschatz, ohne beides zu hinterfragen.

Kinder halten sich für unsterblich. Das gehört dazu und das ist gut so. Kinder in Xenia allerdings sind sich der Vergänglichkeit bewusst, der Schwäche der menschlichen Existenz. Sie leben ein Leben ohne Aussichten, ohne Ziele oder Möglichkeiten, in der jeder Tag aus 24 langen Stunden besteht, die es zu füllen gilt. Solomon sagt, dass das Gute am Leben sei, dass man nicht tot ist. Er sagt das mit einer so traurig-leeren Stimme, dass einem gar nicht in den Sinn kommt, über die kindliche Weisheit zu lächeln. Das Leben der Bewohner von Xenia ist so erbärmlich, dass sie am Boden jeder gesellschaftlichen Hierarchie angekommen sind. Eine ziellose Leere, in der einem in jeder freien Minute die eigene Sinnlosigkeit einholen kann. Ablenkung muss her, Selbstvertrauen muss her. Zeigen wir der Welt, dass wir stärker sind als die anderen. Es bleibt bei Versuchen, die so lustlos sind, dass sie nicht einmal mehr verzweifelt wirken.

Harmony Korine stellt eine Collage aus Fragmenten eines sinn- und wertbefreiten Lebens, die ihre Kraft aus der Magie der Spontanität und dem aufrichtigen aber nicht bemitleidenden Mitgefühl Korines bezieht. Die akzeptierte Verzweiflung des Lebens ist in jeder Szene, in jedem Moment zu spüren. Und das mit einer Intensität, die durch die nüchterne Inszenierung zu Stande kommt. Dadurch dass der Regisseur nichts dramatisiert, aufhübscht oder humorvoll bricht, wirkt der Film wie ein Zeugnis aus einer Welt, die man in seinem Umfeld nicht für wahr halten möchte. Und dennoch ist sie für 90 Minuten da und nimmt Gefangene. In seiner Schlichtheit berührend und in seiner Art bestimmt nicht wiederholbar.

von Levin Günther

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