Wir alle kennen die Bilder des Amoklaufs an der Columbine High School. Wir alle kennen die Namen der beiden verantwortlichen Täter, die am 20. April 1999 zwölf Schüler und einen Lehrer regelrecht exekutierten. Wir alle haben Aufnahmen der Überwachungskamera gesehen, haben dem Notruf der hiesigen Bibliothekarin beiwohnt, ihre unvorstellbare Panik aufgesaugt, während im Hintergrund die Schüsse fielen. Wir sind in gewisser vertraut mit diesem Vorfall, doch verstehen werden wir ihn niemals (was sich im Übrigen auf jeden weiteren Amoklauf übertragen lässt). Und doch, Fragen über Fragen dreht unentwegt ihre malträtierenden Runden in unseren Köpfen: Warum und wie konnte so etwas nur geschehen? Was steckt dahinter? Welche Maßnahmen lassen sich einleiten, um Derartiges in Zukunft entschieden verhindern? Bevor wir nach Ansätzen, Verurteilungen und Beschwichtigungen suchen, müssen wir uns jedoch nicht nur darauf einlassen, dass es in Bezug auf diese martialischen Ausbrüche sinnloser Gewalt keine Generallösung gibt; wir müssen – so bitter es klingen mag – indes auch verstehen und akzeptieren, dass es in diesem Kontext weder Antworten noch einen Sinn gibt.
Hinter einem Amoklauf steckt keine wirklich Logik. Es herrscht die reine Irrationalität. Willkür, wie etwa bei einem ziellosen Fotografen, der durch den Stadtpark streift, um ein geeignetes Profil zu finden; der sich von seinem Umfeld leiten und inspirieren lässt und ein Foto knipst, wenn es ihn nur genug in den Fingern juckt. Diese Analogie stellt auch Gus van Sant(„Good Will Hunting“) in seinem mit der Goldenen Palme für die Beste Regie honorierten Meisterwerk „Elephant“ her. Gleich zu Beginn sehen wir einen Jugendlichen, der Fotos machen möchte. Ein umschlungenes Pärchen nähert sich ihm und stellt damit ein für ihn geeignetes Motiv dar. Warum? „Einfach so“. Dass es in „Elephant“ im weiteren Verlauf tatsächlich noch einen Amoklauf geben wird, ist noch keinem der Beteiligten (bis auf den beiden Tätern selbstverständlich) bewusst, aber bereits mit der alltäglichen Fotografien sowie dem Fotografen persönlich stellt sich Gus van Sant (vorerst) unterbewusst auf Konfrontationskurs mit dem Publikum, welches zwanghaft in jeder Regung ein Erklärungsmuster zu erkennen glaubt, warum es zu einem Amoklauf kommen konnte. Später wird man noch sehen, wie Alex (Alex Frost, „Ein Mann für alle Unfälle“) und Eric (Eric Deulen), die Amokläufer, Ego-Shooter spielen und sich eine Dokumentation über das Dritte Reich ansehen.
Finden wir hier den Ansporn für ihre schockierende Bluttat? Natürlich nicht. Wir sehen Alex ebenso dabei, wie er Ludwig van Beethoven auf dem Piano spielt und wie die beiden Jungs anschließend unter der Dusche erste Küsse austauschen. Sind das etwa die Beweggründe für das Blutbad? Keinesfalls. Warum auch? Gus van Sant reflektiert diesen Impuls-Katalog ganz bewusst, in dem er ihn überhaupt zum kontroversen Diskurs stellt; weil er primär veranschaulichen möchte, dass die Veranlassung eines Amoklaufs niemals an der Oberfläche gelagert ist, sondern seine Wahrheit aus unergründlichen Dimensionen der menschlichen Existenz verkapselt. Dimensionen, die wir nicht ergründen dürfen, weil wir schlichtweg nicht in der Lage sind, das Unvorstellbare zu rationalisieren. Gus van Sant entlarvt hier viel mehr kollektive Befangenheiten, die durch medialen Konsum geprägt wurden – und konterkariert sie gleichermaßen, in dem er Kontraste etabliert. „Elephant“ ist vielmehr ein Film, der sich tief in das Herz der Jugend vorwagt. Befreit von narrativer Linearität und ersichtlicher Dramaturgie verfolgt die so schwebende wie statische Kamera Jugendliche dabei, wie sie ihren Schultag bestmöglich zu bewältigen versuchen.Wie sie sich in Banalitäten wälzen und doch nur einen Ausweg aus der Leere ihres adoleszenten Seins finden wollen.
Ist „Elephant“ deswegen kein Film dezidiert über einen Amoklauf? Doch, natürlich (auch), wenn man annimmt, dass Gus Van Sant die adäquate Behandlung eines solch diffizilen Themas nur vollstrecken kann, wenn er die voyeuristischen und sensationsheischenden Fettnäpfchen umgeht und somit auch fadenscheinige Erklärungsversuche streng aus dem Blickfeld räumt. Van Sant weiß natürlich nicht, warum es zu einem Amoklauf kommen kann (er negiert prinzipiell jedweden kausalen Zusammenhang). Er weiß nur, dass es passiert. Und, dass es wieder passieren kann. Mit diesem Gedanken muss man lernen zu leben. Der Schulkomplex wird dabei in „Elephant“ selbst zum sozialen Organismus, der nicht bemerkt, wie er von Krankheiten heimgesucht wurde und langsam daran zugrunde geht. Schlafwandlerisch bewegt man sich hier durch die Korridore, über Grünflächen und durch Sporthallen (die allesamt Mittel- und Kreuzungspunkte bedeuten), bis sich ein Stein Realität in den Weg rollt. Eigentlich war man doch nur auf der Suche nach einem Ziel, einem Ideal, nach Verständnis.