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Bilder des Zerfalls: Im Klammergriff der Kontroverse - Teil 21

von Pascal Reis

Eine Brachialgewalt. Ein Monstrum von Film. Verstörend, abstoßend, lähmend, auslaugend. Irreversibel ist eine Grenzerfahrung sondergleichen, was Regisseur Gaspar Noé (Enter the Void) bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes einiges an Gegenwind widerfahren ließ. Noch heute wird vollmundig davon berichtet, welche Wellen Irreversibel bei seiner hiesigen Premiere im Jahre 2002 zu schlagen wusste: 200 der 2400 Besucher verließen den Saal, viele weitere quälten sich durch die Vorstellung und klagten im Anschluss über körperliche Beschwerden. Warum aber vermochte es Gaspar Noés zweite Regiearbeit nach Menschenfeind, für derartige Furore zu sorgen? Woher rührt die Ablehnung, die Empörung, die Entrüstung, der Hass, den Irreversibel seit jeher bezieht? Die Antwort darauf ist eindeutig: Wer sich Irreversibel zu Gemüte führt, wird zwangsläufig aus einer Wohlfühlzone gerissen, die einem der eigene Filmkonsum über die Jahre hinweg ankonditioniert hat.

Oftmals wird in der allgemeinen Filmrezeption beklagt, dass die kinematographische Kulturlandschaft zu wenige Innovationen aufweist. Der festgefahrene (Genre-)Usus wird zu selten außer Kraft gesetzt; zu rar scheinen die Unternehmungen, traditionelle Erzählmethoden zu transzendieren. Irreversibel ist jedoch eines der Werke, die sich nicht auf ein altmodisches Regelwerk berufen; die narrativen Konventionen gnadenlos und bis aufs Letzte aushebeln. Die rigorose Schockwirkung, die dieses inszenatorische Operieren abseits der Norm mit sich bringt, allerdings scheint für viele Zuschauer von überraschender Überwältigung: Gaspar Noé macht Irreversibel körperlich erfahrbar und zermürbt gleichwohl die Seelen seiner Rezensenten. Dieser Film ist die Hölle, wenn alles Feuer erloschen ist, und bleibt dabei von einer künstlerischen Brillanz gezeichnet, die noch in Jahrhunderten von sich reden machen wird. Wie aber macht sich diese Brillanz erkennbar?

Im Prinzip finden wir uns in Irreversibel auf abgedroschenen Terrain wieder: Ließt man die Synopsis des Films, dann meint man, einen obligatorischen Rachefilm zu Gesicht zu bekommen. Alex (Monica Bellucci, James Bond 007 - Spectre) wird auf dem Heimweg von einem Fremden vergewaltigt. Ihr Freund, Marcus (Vincent Cassel, Das Vater meiner besten Freundin), macht sich wutentbrannt auf die Jagd nach dem Schänder seiner Geliebten. Dass Gaspar Noé Irreversibel aber einer Rückwärtserzählung unterordnet, also mit dem Abspann beginnt und den Anfang ans Ende setzt, garantiert eine Abschaffung des stereotypisierten Ursache-Wirkung- respektive Aktion-Reaktion-Prinzips, welchem sich Rape-&-Revenge-Vehikel nicht erst seit Ein Mann sieht Rot bedienen. Der Vergeltungsschlag, den Gaspar Noé so an den Anfang seiner Handlung setzt, verschließt sich von vornherein jedweder moralischen Legitimation und verweigert sich einem klaren Anspruch auf Rechtfertigung.

Umso härter trifft uns die Eröffnung: Die vor zentrifugaler Kraft berstende Kamera von Benoit Debie dreht sich schwindelerregend um die eigene Achse und dringt in ständigen, unübersichtlichen Bewegungen vom Hinterhof in einen Schwulenclub ein: Das Rectum. Während sich auf der Tonspur dabei ein delirierender Soundtrack entfaltet, bestehend aus lähmenden Sirenen, mechanischem Gehämmer und dem Keuchen, dem Stöhnen, dem Schnaufen der Clubbesucher, tobt Marcus durch die verwinkelten Gänge der Einrichtung. Kurze Zeit später wird ihm, nachdem er glaubt, den Schuldigen gefunden zu haben, der Arm gebrochen, bis Marcus' Gefährte, Pierre (Albert Dupontel, Tage oder Stunden), die bestialische Initiative ergreift: Mit der Unterseite eines Feuerlöschers bewahrt er Marcus vor einem sexuellen Übergriff und prügelt das Gesicht des Angreifers, wortwörtlich, zu Brei. Irgendwann scheinen nur noch matschige Knochenstücke in den Boden gestampft zu werden.

Es ist ein Akt unvorstellbarer Gewalt, den Gaspar Noé in dieser Szene beschreibt. Aber ist diese Szene voyeuristisch veranlagt, wie viele Stimmen verlauten lassen wollen? Nein, sie ist das genaue Gegenteil: In diesem schier endlos wirkenden Augenblick formuliert Noé seine Abneigung gegenüber der Konsumierbarmachung von Leinwandgewalt. Das Warten auf einen erlösenden Schnitt, der uns an die Fiktionalität des Geschehens gemahnt, bleibt aus. Wir sind zum Zusehen verdammt und werden Teil einer unmenschlichen Gewalteruption. Damit, dass diese Brutalität zusätzlich eine unschuldige Person trifft, akzentuiert Noé seine Intention, die Gewalt einer Sinnhaftigkeit unterzuordnen und den Moralkompass des Zuschauers in seine altbekannte Position einrasten zu lassen. Tatsächlich aber hat man es, geht man von der abgebildeten Gewalt aus, noch lange nicht geschafft: Eine 10-minütige Vergewaltigungssequenz führt den Zuschauer nicht nur an seine Grenzen, sondern weit darüber hinaus.

Das infernalische Rot der Unterführung, in der Alex missbraucht wird, brennt sich ebenso ins Gedächtnis, wie ihre Schreie, die in der vorgehaltenen Hand ihres Schänders verklingen. Die Kamera befindet sich dabei auf dem Boden, direkt vor ihrem Gesicht - wir sind also gezwungen, Augenkontakt zu halten. Ist dieser Moment voyeuristisch? Keinesfalls. Gaspar Noé gibt der physischen Gewalt, in welcher Form auch immer, ihren Schrecken zurück und legt sie, wie den gesamten Film, als tonnenschweren Klotz auf den Brustkorb des Zuschauers. Dass Irreversibel nach diesem doppelten K.O.-Schlag zurück in gemäßigte Gefilde kehrt, ändert freilich nichts an der soghaft-betäubenden Wirkung, die dieses Werke zutage fördert: Irreversibel ist die Antithese des Rachefilms und eine Dekonstruktion unserer Sehngewohnheiten. Ein urbane Ängste spiegelender Abstieg in den Orkus unserer Lebenswirklichkeit. Paradox, wird durch seine erzählerischen Mittel auch unsere herkömmlichen Wahrnehmungsmuster gänzlich auf den Kopf gestellt. Wir sind den Bildern schutzlos ausgeliefert.

Die Zeit heilt keine Wunden, weil die Wunden jenseits der Zeit entstanden.

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