Abschließende Bemerkungen zu Cannes 2022 von Patrick Fey.
Wieder einmal vergingen die fast 12 Tage in Cannes in einem Rausch aus zu wenig Schlaf und einem Schwall an Eindrücken wie im Flug. An dieser Stelle sollen noch einmal ein paar abschließende Bemerkungen hinterlassen werden.
Ein schwacher Wettbewerb?
Bis hinein in die zweite Woche des Festivals sah es so aus, als würden die Filmfestspiele von Cannes nicht nur weit hinter den herausragenden 2021er Jahrgang zurückfallen, sondern auch hinter viele der Prä-COVID-Jahre. Dann allerdings nahm besonders der Wettbewerb der 75. Ausgabe des prestigeträchtigsten Film-Festivals der Welt noch einmal Fahrt auf. Letztmalig unter der Präsidentschaft Pierre Lescures veranstaltet, hob man sich bei der Festivalleitung um Artistic Director Thierry Frémaux viele der Titel prominenter Regiegrößen bis in die zweite Woche auf.
Park Chan-wook etwa, der mit Decision to Leave einen ungewohnt leisen Film präsentiert, der uns, in einer Abkehr vom wendungsreichen Erzählkino seines plotreichen Die Taschendiebin, nur die Idee eines Whodunnit präsentiert, stattdessen jedoch konsequent das ausspielt, was uns und unserem Protagonisten, dem Kommissar Hae-jun, bereits von Beginn an dämmert. Dann war da noch Claire Denis, die, nach Chocolat bis ins stolze Alter von 76 Jahren auf ihre zweite Einladung in den Wettbewerb um die Goldene Palme von Cannes warten musste, obgleich ihr Stars at Noon—eine Antonioni-inspirierte Passenger-Geschichte in Nicaragua— sich nahtlos in ihr sonstiges Œuvre einfügt, weitaus mehr noch als beispielsweise ihr Genre-Experiment High Life. Und dann war da noch Hirokazu Kore-eda, der sich mit Broker erstmals in koreanischer Sprache versuchte und dafür gleich auf die Dienste Song Kang-hos (Parasite) zurückgreifen konnte. Nach La Vérité – Leben und lügen lassen aus dem Jahr 2019 markiert Broker nun den zweiten Film in Folge, den der Japaner nicht in seiner Landessprache realisiert, und es stellt sich die Frage, ob es womöglich auch in dieser Abkehr vom Japanischen seine Begründung findet, dass Kore-eda sich in beiden Nachfolgern seines Palm d'Or-Gewinners Shoplifters - Familienbande (2018) in allzu seichtem Familien-Pathos verliert. So jedenfalls sah es dann auch die Kritik, deren Rückhalt nicht mehr uneingeschränkt positiv ausfällt.
Es ist müßig, die Qualität verschiedener Jahrgänge in ihrer Gänze vergleichen zu wollen. Doch wie oft trägt es sich schon zu, dass eine Pandemie die Welt—und mit jener auch die Filmindustrie—erschüttert. Durch jene große Disruption insbesondere des Jahres 2020 kam es dann, dass die Filmfestspiele von Cannes erstmals seit dem Jahr 1968, als das Festival aufgrund der Studierendenproteste abgebrochen wurde, nicht stattfinden konnten. Eine ganze Reihe von Filmen, schon abgedreht oder noch im Produktionsprozess, wurden somit erst einmal auf Eis gelegt. Und während sich manche dieser Filme mit dem Cannes-Logo zufriedengaben, das zum regulären Kinostart die Poster und Trailer zieren durfte, um das kulturelle Kapital, das jenen Filmen durch die Selektion durch Cannes zuteil wurde, in ökonomisches umzuwandeln, was zweifellos Thomas Vinterbergs Oscar-Gewinner Der Rausch am besten gelang.
Vergleicht man nun also die diesjährige Auswahl mit jener des Jahrgangs 2021, als Cannes nach einjähriger Abstinzenz wieder stattfinden konnte und viele Projekte, mitunter monatelang von den Studios zurückgehalten, so dürfte rückblickend kaum zu leugnen sein, dass das 75. Jubiläum eigentlich schon ein Jahr zuvor stattgefunden hat. Wenn also das diesjährige Programm für weniger spannend befunden wird, so ist das sicher eine legitime Position, doch sollte sie nicht aus einem Vergleich mit dem außergewöhnlichen Jahr 2021 resultieren.
Die Popularisierung der Palm d'Or
Bei einem Festival wie Cannes ist es immer leicht, die Übersicht zu verlieren, wenn jeden Tag neue Filmemacherïnnen aus aller Welt an der Croisette aufschlagen, die auf die eine oder andere Weise auf sich aufmerksam machen. Auf diese Weise geraten dann im Schlussakt des Festivals schnell Filme in Vergessenheit, die zu Beginn zu sehen waren. In der Retrospektive allerdings, aus der heraus sich Entscheidungen wie jene der Wahl der Palm d'Or als ganz selbstverständlich darstellen, scheint Ruben ÖstlundsTriangle of Sadness, der seine Premiere zu Beginn des Festivals feierte, den Trend der letzten Palmengewinner Parasite und Titane fortzusetzen. Es ist ein bewusst populäres Kino, das, obzwar dezidiert Kino in seiner Form, ästhetisch weniger herausfordert als es sich entschieden der Unterhaltung widmet.
Östlund selbst verkündete bei der Pressekonferenz zur Weltpremiere, dass es ihm bei Triangle of Sadness besonders darum gegangen sei, die diskursiven Qualitäten des europäischen Autorenfilms mit jenen des amerikanischen Unterhaltungsfilms zu verbinden. Dass Östlund, dem vier Jahre nach The Square die persönliche Titelverteidigung gelungen war, am Samstag, dem 28.05.2022, die goldene Palme im Grand Lumière verliehen wurde, unterstrich der Schwede dieses seine Anliegen nochmal in einer Formulierung, die vielen Cinephilen die Fußnägel hochrollen lassen wird: Im Endeffekt, so Östlund, gehe es darum, Content zu kreieren.
Vielversprechende Talente
Vermutlich kein Film der diesjährigen Semaine de la Critique konnte binnen kürzester Zeit so viel Aufmerksamkeit auf sich versammeln wie Aftersun, das Spielfilmdebüt der Schottin Charlotte Wells, das sie im Zuge des Sundance Screenwriters Lab entwickelte. Produziert von niemandem Geringeren als Barry Jenkins gelingt Wells mit Aftersun ein ungeheuer feinfühliges Drama, das mit großer inszenatorischer Gewissheit den Erinnerungen einer Frau an ihren Sommerurlaub mit ihrem damals jungen Vater nachspürt. Insbesondere der durch Normal People populär gewordene Paul Mescal, der mit God's Creatures in einem weiteren Film in Cannes vertreten war, spielt hier als überforderter, unter Depressionen leidender Vater in größter Zurückgenommenheit groß auf.
In der Quinzaine des réalisateurs, die international als Director's Fortnight bekannt ist, war es insbesondere Funny Pages, das auf sich aufmerksam machen konnte. Es handelt sich dabei um das viel beachtete raue Erstlingswerk Owen Klines, der wie sein Schauspielkollege Jesse Eisenberg, mit dem er einst zusammen für Noah Baumbachs Kultfilm Der Tintenfisch und der Wal vor der Kamera stand, im Jahr 2022 erstmals auf dem Regiestuhl Platz nahm. Mit seiner von den Safdie Brüdern produzierte Coming-of-Age-Dramedy über einen Jugendlichen, der im Begriff ist, die High School und das College zu schmeißen, um eine Karriere als Comic-Künstler ins Rollen zu bringen, deutet Kline mit seiner erfrischend grellen und unveredelten Erzählweise bereits eine willkommene singuläre Stimme an, die es in den kommenden Jahren gelten wird, in den entscheidenden Momenten zu verfeinern.
Das dritte große Debüt des Cannes-Jahrgangs 2022 lieferten Riley Keough und Gina Gammell mit War Pony in der "Un Certain Regard"-Sektion, das die Camera d'Or—den Preis für das beste Debüt—mit nach Hause nahm. Die Slice-of-Life-Geschichte aus dem Pine Ridge Reservat in South Dakota fand ihren Ursprung 2015 am Set von Andrea Arnolds American Honey, als Riley Keough (The House That Jack Built, Under the Silver Lake), die Enkelin von Elvis Presley, mit mehreren Statisten ins Gespräch kam, woraus sich die Kollaboration Franklin Sioux Bob und Bill Reddy ergab, die sie ihrer besten Freundin Gina Gammel vorstellte. Basierend auf den Erfahrungen Bobs und Reddys hinsichtlich ihres Lebens im Reservat entstand so ein Drehbuch, das darum bemüht ist, jene Erfahrungen im Stile eines sozialen Realismus' eines Sean Bakers oder einer Andrea Arnold zu reflektieren, was dem kreativen Gespann auf eindrucksvolle Weise glückt.
Nach Cannes ist vor Venedig
Nachdem 2021 COVID-bedingt keine zwei Monate zwischen den Filmfestspielen von Cannes und Venedig lagen, ist nun, ein Jahr später, alles wieder in gewohnter Ordnung. Dementsprechend bleibt auch ein wenig mehr Zeit, darüber zu spekulieren, welche Filme dieses Jahr am Lido in Venedig aufschlagen werden. Traditionell mehr als Cannes darum bedacht, die US-amerikanische Award-Season einzuläuten, dürften sich nach Titeln wie Dune und The Power of the Dog auch dieses Jahr wieder große Hollywood-Namen beim ältesten Film-Festival der Welt die Ehre geben. Screen Daily rechnet insbesondere mit Netflix, das in Cannes aus altbekannten Gründen fernbleibt, und stellt Titel wie Alejandro González Iñárritus Komödie Bardo, Noah BaumbachsDon-DeLillo-Adaption White Noise mit Adam Driver und Greta Gerwig in Aussicht.
Daneben scheinen Wes Andersons in Spanien gedrehtes Asteroid City, Guillermo del TorosPinocchio sowie Joanna HoggsThe Eternal Daughter—alle drei vereint durch die Präsenz Tilda Swintons—wahrscheinliche Kandidaten für ein Debüt am Lido zu sein. Auch Ari AstersDisappointment Blvd. mit Joaquin Phoenix, Darren AronofskysThe Whale sowie Florian Zellers geistiger Nachfolger zum gefeierten Demenzdrama The Father aus dem Jahr 2020, The Son, dürfte größte Aufmerksamkeit zuteil werden, so sie denn für ihre Premiere in Venedig vorgesehen sind. Auf Martin McDonaghs ersten Film seit Three Billboards Outside Ebbing, Missouri aus dem Jahr 2017, The Banshees of Inisherin, darf ebenfalls gehofft werden—eine Geschichte zweier Männer, deren lebenslange Freundschaft auf einer entlegenen irischen Insel eines Tages in die Brüche geht. Aus deutscher Sicht dürfte besonders Maria Schraders (Liebesleben, Vor der Morgenröte, Ich bin dein Mensch) Hollywood-Debüt She Said mit Carey Mulligan von Interesse sein, in dem Schrader die Recherchen des Harvey-Weinstein-Falls aufgreift.