Von Lidanoir
Selbst das Unwahrscheinliche kam wenig überraschend bei einer Preisvergabe, die im Guten wie im Schlechten so unspektakulär verlief wie der Wettbewerb. Der war ein verkrampfter Balanceakt zwischen Zeitgeist-Zugeständnissen und Traditionalismus, mit dem das Establishment bei seiner Selbstbestärkung möglichst fortschrittlich auszusehen versucht. Sieben der 21 Wettbewerbsfilme stammten von Regisseurinnen. Eine Konstellation, die per se fast wie ein trotziger Kommentar - oder sarkastischer Witz - erscheint, markieren doch 33% die kritische Schwelle, ab der eine demographische Minderheit überhaupt wahrgenommen wird und etwas bewirken kann. Vom angeblichen Veränderungspotenzial war allerdings wenig zu sehen und hören. Das hatte die Wahl der Kandidat*innen schon im Vorfeld sichergestellt.
Mit Ausnahme Ramata-Toulaye Sys, die mit ihrem Spielfilmdebüt Banel & Adama erstmals in Cannes war, waren alle Regisseurinnen fest integriert in die Cannes-Clique der Filmschaffenden, die seit Jahren oder Jahrzehnten das Festival-Programm dominieren. Bis auf Sys Werk und Alice Rohrwachers wundervollen, doch unverfänglichen La Chimera fügen sich alle auf ihre Art nahtlos in die etablierten Perspektiven. Sei es durch die Relativierung von Rassismus und Misogynoir in Catherine CorsinisHomecoming, Catherine Breillats elitäres Erotisieren sexuellen Missbrauchs in Last Summer oder Kaouther Ben Hanias sensationalistischer Blick auf das Schreckgespenst islamistischer Radikalisierung. Jessica Hausner gelang mit Club Zero gar ein ästhetischer, ideologischer und dramatischer Ekel-Coup.
Der schien in einigen Szenen wie ein Köder für Jury-Präsident Ruben Östlund, der sich womöglich deshalb mit den übrigen Mitgliedern auf verdientere Beiträge einigte. Den Große Preis der Jury für Jonathan Glazers paralytischen Historien-Horror Zone of Interest, der früh als sicherer Tipp für einend er Hauptpreise galt. Das gleiche ohne „Groß“ für Fallen Leaves von Kaurismäki, einer der so gern zu „Altmeistern“ verklärten Altmänner. Wie Yuji Sakamoto, der für sein Drehbuch zu Monster ausgezeichnet wurde oder Wim Wenders. Er brachte neben der außer Konkurrenz gezeigten Kiefer-Doku Anselm die bittersüße Alltagsepisode Perfect Days, für die Kōji Yakusho als Bester Hauptdarsteller geehrt wurde.
Weil Cannes noch immer binär tickt, ging der Preis für die Beste Hauptdarstellerin an Merve Dizdar in About Dry Grasses. Ein kleiner Schock für den Teil der deutschen Kritik, der Sandra Hüller gehypt hatte. Obwohl eine befremdliche Jury-Entscheidung eher die Preisvergabe für die Beste Regie an Tran Anh Hùngs beliebiges Foodie-Fest The Pot-au-feu. Quasi zum Trost durfte Hüller mit auf die Bühne als Justine Triet die Goldene Palme für ihr Gerichtsdrama Anatomy of a Fall entgegennahm. Es wirkt beinah ein bisschen einstudiert, nachdem Jane Fonda unmittelbar davor die Frauenpräsenz hervorhob und weniger patriarchalische Exklusivität als Triumph der Gleichberechtigung dastehen ließ.
Wie sicher das Festival jedoch in seinem reaktionären Fundament ankert, zeigt nicht nur der Mangel an Diversität mit Ramata-Toulaye Sy als einziger Person of Color im Wettbewerb eines traditionell weiß und eurozentrisch geprägten Programms. Oder der (notorisch straightifizierten) Queer Palm für Hirokazu Kore-edasMonster. Da kann man die Auszeichnung genauso dem Wetterbericht geben, weil mal kurz ein Regenbogen im Bild war. Und es gibt sie auch jedes Jahr, die Momente, die sich unerträglich anfühlen: Johnny Depp und Maiwenn (Jeanne du Barry) werden auf dem roten Teppich gefeiert und Thierry Frémaux Reaktion auf Adèle Haenels (Portrait of a Lady on Fire) entschlossene Kritik an Cannes.
benannte in einem offenen Brief an die Presse, was längst bekannt ist: Dass Cannes und andere französische Film-Institutionen nur allzu bereitwillig Täter (und deren Unterstützer*innen) verteidigt. Festival-Leiter Frémaux verneinte die Vorwürfe gegenüber der Presse, deren Präsenz er als Parteinahme auslegte: „Wenn ihr das glauben würdet, wärt ihr nicht hier und würdet mir zuhören, eure Akkreditierungen abholen und euch über ein Festival voller Vergewaltiger beschweren“. Diese Dialektik ist ebenso grotesk wie effektiv: Wer etwas auszusetzen hat, soll wegbleiben, den Arbeitsauftrag oder die öffentliche Bühne aufgeben oder wie Haenel, die ankündigte, sich aus der Filmbranche zurückzuziehen, doch gleich den Job hinschmeißen.
Das macht es bequem für die Täter und das Establishment, das sie legitimiert. Sie sind ungestört, keiner sagt mehr etwas gegen sie und falls doch, dann findet dies außerhalb des Presse- und Publikumsrummels weit weniger Beachtung. Alte Machtstrukturen werden weiter gestärkt und man braucht sich nichtmal die Mühe der Ausgrenzung zu machen. Es bleibt nur zu hoffen, dass Frémauxs Worte motivieren: Dass möglichst viele kritische Journalist*innen trotz all der Hürden und Widerstände dort sein werden, um auf Täter zu zeigen, auf ihre bereitwilligen Komplizen und die Missstände in filmischen Institutionen, die nicht erneuert werden können, sondern überwunden werden müssen.