Nachdem ich mich am letzten Samstag mal wieder etwas zu sehr habe gehen lassen und einer durchzechten Nacht einwilligte, die damit endete, dass ich mir in einem fremden Bett den Alkoholkonsum mehrfach durch den Kopf gehen ließ, herrschte am Sonntag, wie sollte es auch anders sein, ausgiebige Katerstimmung. Und wie steuert man einem wummernden Brummschädel am effektivsten entgegen? Natürlich, man schmeißt sich auf die Couch und wirft einen Film ein. Dass es bei mir ausgerechnet Der Tölpel vom Dienst wurde, in dem sich Jerry Lewis als überempfindlicher Pfleger durch ein Sanatorium trottelte, schien mir im Zuge der kurze Zeit darauf eintreffenden Todesmeldung Lewis' wie ein vom Schicksal angeregtes letztes Treffen zweier langjähriger Freunde – und gab mir die Chance, mich gebührend von einem der größten Helden meiner Kindheit zu verabschieden.
Es ist für mich daher auch ein Ding der Unmöglichkeit, reserviert Lebewohl zu sagen, ohne in verklärendes Sentiment zu verfallen. Dafür reichen meine Erinnerung an den Sohn zweier Varieté-Künstler, der bereits als Teenager regelmäßigen Kontakt mit dem Bühnendasein erfuhr und 1945 im Club 500, Altlantic City, auf Dean Martin traf, um mit dem King of Cool im Anschluss Geschichte zu schreiben. Ich erinnere mich an Samstage, an denen RTL II noch am Vormittag zwei Filme zeigte, in denen Jerry Lewis die Hauptrolle spielte. Ich erinnere mich an Montage, an denen Super RTL im wöchentlichen Turnus Jerry Lewis die Ehre erwies. Und ich erinnere mich an Sonntage, an dem man im familiären Kreis auf der Couch lümmelte, um sich wieder und wieder anzusehen, wie Jerry Lewis widerwillig gebratene Heuschrecken verspeiste (Der Ladenhüter), wie er sich um das Wohlergehen von fünf Babys sorgte (Der Babysitter) oder von der aufreizenden Vampirlady phantasierte (Der Agentenschreck).
Jerry Lewis, einer der Lehrmeister von Steven Spielberg (Der weiße Hai) oder George Lucas (Krieg der Sterne) konnte auf eine Karriere zurückblicken, die aufregend und abwechslungsreich war, aber niemals erfüllt. Dafür sorgte 1972 das Projekt The Day the Clown Cried, ein Mythos, weniger Film denn Legende. Jerry Lewis investierte sein gesamtes Herzblut in das Werk, nur um sich am Ende der Dreharbeiten eingestehen zu müssen, dass er gescheitert ist. Von dieser Erkenntnis an war der Mann, der in seinem Leben immer mit Rück- und Tiefschlägen umgehen musste, nicht mehr der gleiche. In Interviews (empfehlenswert ist an dieser Stelle ist auch die Dokumentation Der Clown) betont er, dass es keinen Tag gibt, an dem er nicht an diesen Film denken muss; daran, was er darin gesehen hat und wie sehr er sich verhoben hat. Das künstlerische Misslingen seinerseits besetzten sein komplettes Denken und Fühlen, auf der Leinwand wurde es viele Jahre still um Lewis.
Stattdessen sammelte er Spendengelder in Millionenhöhe für Kinder mit Muskelschwund, söhnte sich 1976 vor laufenden Kameras mit Dean Martin in einer herzergreifenden und von Frank Sinatra initiierten Wiedereinigung aus und tingelte als Gast-Star durch TV-Shows. Ohnehin war das klassische Hollywood, in dem Jerry Lewis noch als Paramount-Augehängeschild schillerte, weil er bereit war, der Produktionsmaschinerie frische Impulse einzuverleiben, längst nicht mehr gefragt. Stattdessen setzen sich seine Schüler, Spielberg und Lucas, im New-Hollywood-Kino durch und perfektionierten jene Weisheiten, die Jerry Lewis ihnen einst mit auf den Weg gegeben hat. Warum Jerry Lewis karrietechnisch aber unverzüglich in eine Art Durststrecke rutschte, lässt sich wohl, ganz profan, mit dem Wandel der Zeit beschreiben. Die Sehgewohnheiten veränderten sich, die Interessengebiete schlugen um, Lewis' ehemalige Verfechter wurden älter. Wahrscheinlich vertrat man selbst irgendwann den Standpunkt, dass man einem Regisseur und Schauspieler nicht mehr folgen möchte (oder kann), dessen Charaktere, nach eigener Aussage, niemals älter als 9 Jahre sein dürfen.
Dass Jerry Lewis nicht fehlerfrei war, steht außer Frage. Despektierliche Äußerungen über Flüchtlinge und Homosexuelle irritierten ebenso sehr, wie seine lobenden Worte gegenüber Donald Trump. Löst man sich allerdings von der Privatperson Jerry Lewis, seinem Kontrolldrang, der irgendwann auch zum Bruch mit Dean Martin geführt hat, seinen ideologischen Verfehlungen, für die er sich nicht nur einmal entschuldigte, wird deutlich, dass uns sein Output etwas zutiefst Menschliches vermittelt hat, was uns die Zeit immer wieder versuchte, zu entreißen. Selbst wenn es sich dabei „nur“ um die kindliche Naivität handeln mag, über eine Person zu lachen, die hüpft, tanzt, brüllt und mit einer außer Kontrolle geratenen Physiognomie durch die Sets stürzt. Seine Performancekunst (ob entfesselt, als obligatorischer Prügelknabe, oder gemäßigt, wie in Martin Scorseses Meisterwerk The King of Comedy), sein visionäres Handwerk, sprich, sein faszinierendes, nicht selten selbstreflektorisches Genie, wird nie aus der Mode kommen.
Dass Jerry Lewis unsterblich ist, bestätigt sich nun erst wirklich. Auch wenn seine irdische Existenz beendet sein mag und die Selbstverständlichkeit, die man gegenüber seiner Anwesenheit längst eingenommen hat, auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt wurde, bleibt der 1942 in Newark geborene Vollblutentertainer für die Ewigkeit bestehen. Als Beschwörer der eigenen Filmliebe, als feste Stütze der Kindheit, als Meister des visuellen Humors, als gebrochene Seele. Als Clown mit dem schweren Herzen, der selber immer zu leiden hatte, der mit 34 bereits seinen ersten Herzinfarkt hatte, den Krebs besiegte, seinen besten Freund für 20 Jahre verlor und auch an sich selbst scheiterte. Dem aber nichts mehr daran lag, anderen Menschen Leid zu nehmen, in dem er ihre Herzen berührte, ihr Zwerchfell erschütterte, ihnen die Sicherheit zusprach, dass das Lachen etwas Wundervolles ist, man sich der Trauer aber ebenfalls niemals verschließen sollte. Danke dafür.