Kannst du deine Figur genauer beschreiben, die Neruda gleichzeitig bewundert, verehrt und verachtet?
Bernal: Es ist wirklich interessant, wie sich das zeigt, denn während des Drehs habe ich das gar nicht deutlich erfassen können. Wir folgten beim Dreh einer gewissen Logik, waren manchmal auch spontan und probierten einfach mal etwas anderes. Aber am Ende setzte Pablo das alles zusammen: »Das gehört hierhin und das kommt dahin«, und dann wird es etwas völlig anderes, als ich erwartet hatte. Aber ich war mir eben ohnehin nicht sicher – ich wusste den richtigen Weg einfach nicht. Es geht ja auch darum, den zu finden.
Wenn ich also sage, dass ich es nicht deutlich erfassen konnte, meine ich damit auch, dass mich seine Faszination fasziniert. Peluchonneau sollte eigentlich keiner sein, der Nerudas Poesie natürlich aufnehmen kann, denn er steht am Rand der Gesellschaft. Und im Grunde kann er es auch nicht. Doch während des Films beginnt er nach und nach … nein, nicht Nerudas Poesie zu lesen, sondern selbst sozusagen ein Teil von ihr zu sein. Das ist eine Lesart des Ganzen: dass er sich selbst in einem Gedicht von Neruda befindet. Und es überrascht ihn selbst, dass er sich da im Inneren einer bestehenden Architektur befindet, dazugehört. Das hat gewissermaßen auch etwas Magisches: Wie kann so etwas geschehen?
Bei den Vorbereitungen für dieses Interview hörte ich meine alte Aufnahme des »Canto General«, die damit beginnt, dass Neruda selbst einige Verse rezitiert. Es kam mir so vor, als ob sein Darsteller im Film sehr ähnlich klingt. War das auch das Ziel?
Larraín: Oh ja! Aber natürlich! Denn …
Bernal: Es ist sehr speziell.
Larraín: Für uns ist das wie … Ich weiß nicht, es ist wie Bob Dylan. Er hat eine sehr spezielle Art, zu sprechen – und eine sehr spezielle Art, seine eigenen Gedichte zu rezitieren. Das mussten wir bewahren, dazu mussten wir eine Verbindung aufbauen, und ich bin froh, dass wir das getan haben. Denn manchmal, wenn der Film im Ausland gezeigt wird, könnte man meinen, dass Luis auf diese Weise spielt, weil wir das für lustig hielten.
Bernal: Nein, nein, nein.
Larraín: Nein. Neruda sprach auf eine sehr spezielle Weise, und Luis … Er imitiert ihn nicht einfach. Er ähnelt ihm, erschafft die Illusion dieser Stimme. Und die Stimme hat dabei einen ganz speziellen Rhythmus, eine spezielle Geschwindigkeit, einen speziellen Tonfall, und den verwenden wir in gewisser Weise auch als Tonfall des Films insgesamt. So haben wir gedreht, deshalb ist auch die Kamera ständig in Bewegung, folgt immer den Figuren.
Zwischendurch erinnert der Film an die Ikonographie eines Westerns, vor allem gegen Ende. Und durch die Farben hat er einen gewissen 70er-Jahre-Look …
Larraín: Tja, gewissermaßen ist es ein Film über Filme. Er hat Elemente des Film Noir – Rückprojektionen und so weiter. Es ist auch ein Verfolgungsfilm. Ein Roadmovie. Und letzten Endes ist es wie … Ich weiß nicht. Eine Komödie? Und das Ende, wie richtig gesagt wurde, ist wie ein Western. Und all diese Dinge kommen direkt aus Nerudas Leben, aus seiner Zeit.
Wie ist der Film in Chile selbst aufgenommen worden? Unterscheiden sich die Reaktionen von denen in anderen Ländern?
Larraín: Ja. Es gab tatsächlich alles. Alles, was man über einen Film sagen könnte, ist in Chile über »Neruda« gesagt worden. Ich denke immer, das ist phantastisch – ich denke das wirklich. Am Anfang dachte ich, diese Reaktionen hätten nur wir. Aber dann verstand ich, dass jeder Film in seinem Ursprungsland anders aufgenommen wird als überall sonst. Und auf »Neruda« trifft das ganz besonders zu. Jeder hat seine Vorstellung von Neruda, und dann kommt so ein Film – natürlich reagieren die Leute darauf. Und das – es ist gut, es ist faszinierend.
Bernal: Ja, es ist auch seltsam, obwohl so etwas oft passiert. Das sage ich aus einer spanischsprachigen Perspektive. Aber es war sehr tröstbar … tröstbar, ich glaube, das Wort gibt es gar nicht. Es war sehr tröstlich … Also, ich habe es sehr genossen, Neruda sprechen zu hören. Auf diese spezielle Art und Weise … (Er imitiert Nerudas typische Intonation) … Denn man hört das, und am Anfang denkt man: »Oh nein. Nein. Tu das nicht. Das wird …«
Larraín: Es ist schrecklich.
Bernal: »Das wird einfach so falsch. Das wird einfach schrecklich.« Am Anfang denkt man, dass es ganz furchtbar klingt. Aber dann gewöhnt man sich daran. Lucho Gnecco hat mich zum ersten Mal in meinem Leben dazu gebracht, dass ich ebenfalls … Ihr wisst, es gibt da diese Szene, in der Delia zu Neruda sagt, gut, lies es noch mal, aber diesmal mit deiner Dichterstimme …
Larraín: Das war eigentlich ein typisch chilenischer Witz.
Bernal: Nein, ich … Ich habe Neruda jetzt in Mexiko rezitiert.
Larraín: Ah, in Morelia?
Bernal: Ja.
Larraín: Ich weiß, dass du ihn da vorgetragen hast. Aber … mit dieser Stimme?
(Alle lachen.)
Bernal: Nein, nein! Aber es kam ein gewisser Punkt … Irgendwo in meinem Hinterkopf las ich das mit Nerudas Intonation: »Mexiko, Mexi…« und ich dachte, oh Mann, nein, das muss ich vergessen, aber … Es klingt plötzlich so gut! Und ich mag es. Ich mag das Melodische daran. Und das ist wirklich, wirklich schräg.
Larraín: Es ist ein Witz. Denn das würde ja heißen, dass der Inhalt mit der Art und Weise verknüpft ist, wie es vorgetragen wird.
(Beide lachen.)
Ich hatte das Gefühl, dass es in dem Film auch um Freiheit geht: Freiheit der Künstler und der Kunst. Darum, dass echte Kunst nicht zerstört werden kann.
Larraín: Dieser Film geht zu Neruda nach Hause und spielt mit seinen Spielsachen. Gael hat Neruda gerade beschrieben: Er war ein großartiger Koch. Er kannte sich mit Wein aus, er war ein Literaturexperte, ein Reisender, ein Sammler, ein Diplomat. Er liebte Dinge … und Frauen. Er reiste um die Welt, er war Senator, eine Führungspersönlichkeit, er wäre fast Präsident von Chile geworden. Und er war jemand, der unsere Eigenarten beschrieben hat.
Bernal: Der Film hat auf jeden Fall einen komödiantischen Aspekt: Das System gegen eine einzige Person. Das ist so lustig. Das Drama besteht darin, wie lächerlich es ist, dass das System so viele Ressourcen und jede Menge Energie aufwendet, um einen Dichter ruhigzustellen. Das ist die Komödie. Ich spiele einen Polizisten, der einen Poeten jagt. Das macht es noch zehnmal lustiger.
Im Film klingt irgendwann die Überlegung an, dass es vielleicht gar nicht wirklich beabsichtigt war, Neruda zu fassen?
Larraín: Da wir ja gerade über die Reaktionen in Chile gesprochen haben: Das wird in meinem Land heftig diskutiert. Es gibt Leute – Historiker –, die meinen, dass wir recht haben, andere sagen, wir irren uns, und es gibt einige – nur noch sehr wenige sind am Leben –, die damals mitgemacht und geholfen haben, Neruda zu verstecken. Die haben uns Briefe geschrieben und gesagt, dass wir falsch liegen.
Ich denke nur einfach … Santiago hatte damals um die 600.000 Einwohner, und 300 Polizisten suchten nach ihm. Zwei Jahre lang. Und der Typ feiert Partys, geht spazieren … Das ist die eine Sache. Die andere ist: Was hätten sie im Gefängnis mit ihm angestellt?
Bernal: Genau.
Larraín: Du verhaftest ihn also und sperrst ihn ein – was machst du da mit Neruda, der damals ein weltweiter Superstar war? Was machst du mit so jemandem im Gefängnis? Es wäre inakzeptabel gewesen. Unmöglich umzusetzen. Wir sind nicht China, wo Künstler eingesperrt werden und das System das voll kontrolliert und ihm der Rest egal ist. Aber … Ich glaube, sie mussten Neruda damals verfolgen, weil sie ja auch all die anderen Leute verfolgten – aber sie durften ihn nicht fassen. Und dieser Gedanke erscheint manchen heute sehr beleidigend.
Bernal: Aber es ist eine sehr plausible Hypothese.
Larraín: Eben, es ist nicht so verrückt.
Bernal: Es hätte so sein können. Das haben wir uns bei diesem Film immer gefragt, und vielleicht ist das die einfachste aller Fragen. Manche Leute wollen wissen, ob der Film zeigt, was wirklich passiert ist. Und wir sagen: Na ja, nein, natürlich nicht. Aber er bedient sich aus der Wirklichkeit.
Wir haben alle möglichen Elemente ausgewählt, zusammengesetzt, Neues eingefügt, versucht, unsere Quellen mit der Welt abzustimmen, die wir da erschaffen haben – und mit dem, was sich aus den verschiedenen Blickwinkeln interpretieren lässt. Und ich glaube, von den meisten Dingen im Film können wir sagen: Sie hätten passieren können. Das ist unsere Leistung: Vielleicht ist es so passiert – vielleicht auch nicht. Vielleicht war Nerudas Andenüberquerung in der Realität viel spannender als im Film. Vielleicht war sie auch langweiliger, und er wollte, dass etwas Spannendes geschieht. Wie in der Szene, als er fragt: »Ist das jetzt der Teil mit den Pferden?«
(Alle lachen.)