3.2 Figuren
In Kapitel 3.1 steht die Bemerkung, dass No Country For Old Men ein eigentlich plotorientierter Filmstoff sei, der jedoch durch die Inszenierung zu einem figurenzentrierten Werk würde. Wer diese Figuren sind, wie sie sich entwickeln und gegenseitig beeinflussen, werde ich in diesem Kapitel erläutern.
Sheriff Ed Tom Bell ist die Hauptfigur, die dem Zuschauer als erstes vorgestellt wird. Der Zuschauer bekommt zwar sein Gesicht nicht zu sehen, hört aber seinen Monolog, der an den Zuschauer gerichtet ist. Dies ist der einzige Moment, in welchem Bell tatsächlich als Erzähler fungiert, aber es ist genug, um ihn als solchen zu identifizieren. Durch seinen Monolog wird deutlich, dass er ein konservativ eingestellter älterer Herr ist, der stolz auf seine Vergangenheit blickt (er ist Sheriff in der dritten Generation). Damit symbolisiert er „Tradition, Gesetz und christliche Moral“, wie in No Country For Old Men - From Book to Film geschrieben steht. Mit der Gegenwart hingegen hat er Probleme. So ist er verwirrt von seiner Umgebung und kann dem Unrecht und Verbrechen keinen Sinn mehr abgewinnen. Er fühlt sich dieser seiner Welt nicht mehr zugehörig. Als Gesetzeshüter fungiert Bell jedoch als moralischer und ethischer Bezugspunkt für den Zuschauer. In dem Roman von Cormac McCarthy, auf dem der Film basiert, hat Bell eine Backstorywound, die immer mal wieder erwähnt wird (er ist im Zweiten Weltkrieg nach einem Angriff von seiner Kompanie geflohen, obwohl unsicher war, ob er hätte helfen können). Diese Backstorywound fehlt im Film von Ethan und Joel Coen, doch zeigt sie sehr deutlich, was das größte Problem von Bells Charakter ist. Er ist ein guter Mann mit besten und fairen Absichten, doch leidet er an der „Sünde der Versäumnis“. Im Film wird dies daran deutlich, dass Bell mit seinen guten Absichten (nämlich Moss zu schützen und Chigurh zu stellen) stets zu spät zu den Tatorten kommt. Er nimmt keinerlei Einfluss auf den Verlauf und Ausgang der Jagd zwischen Chigurh und Moss. Stattdessen bleibt er ein im deutlichsten Sinne passiver Charakter, der nur noch reagiert und mit seiner Umwelt nicht mehr Schritt halten kann. Als Sheriff ist Bell der Charakter, der am deutlichsten an das Western-Genre erinnert. Mit den aufrechten, vor Pathos überlaufenden und blitzschnellen Sheriffs aus der Zeit des klassischen Western hat er jedoch nichts mehr gemein. Er hat bereits aufgegeben, bevor das Sujet beginnt und ist lediglich noch eine „schattenhafte Version“ des ehemals glänzenden Gesetzeshüter. Dennoch ist er „der eigentliche Held des Films“, der stets wie eine pessimistisch-beruhigende Hand auf der Schulter des Zuschauers wirkt. Dass die Figur des Bell mit Tommy Lee Jones besetzt wurde, ist dabei kein Zufall. Jones’ Image ist das eines aufrechten Cowboys, der für Gerechtigkeit sorgt und gegen jedes Übel gewachsen scheint; ein klassischer Westernheld eigentlich, der hier bewusst konterkariert wird.
Llewelyn Moss ist jene der drei Hauptfiguren, die dem Zuschauer zuletzt vorgestellt wird und, in Anbetracht des Zeit-Verhältnisses der drei Hauptfiguren, der Protagonist. Moss ist ein überaus ruhiger Mensch, wenig gesprächig, teils beißend-zynisch, der jedoch vor allem im Hinblick auf seine Frau einen weichen Kern offenbart. Er wurde zweimal im Vietnam-Krieg eingesetzt und lebt nun ein Leben als Jäger und Trapper in Texas. Er ist ebenfalls nur noch eine „schattenhafte Version“ des klassischen Cowboys. Anstelle von ehrenhaften Verteidigungen der äußeren Gewalteinwirkungen, bringt er sich selbst in eine Situation, der er nicht gewachsen ist. Weite Teile des Films verbringt er entweder hilflos oder verletzt. Sobald er den Geldkoffer findet und an sich nimmt, verblasst „der ehrenvolle Cowboy, als der moderne Opportunist eingreift“. Als er schließlich zurück zum Tatort geht, sein einziger Moment im Film, den man als rein „gut“ bezeichnen kann, beginnt die Jagd auf ihn. Seine Gier treibt ihn in die Schuld, seine Empathie (auch für seine Frau Carla Jean) schließlich ins Verderben. War die Rolle des Bell für Tommy Lee Jones ein Bruch mit seinem gängigen Image, ist Llewelyn Moss gewissermaßen eine Manifestation für Josh Brolins nun aktuelles Image als beinharter Mann.
Anton Chigurh ist die letzte der drei Hauptfiguren, der Antagonist der Geschichte und der wohl interessanteste der Charaktere. Der Zuschauer lernt ihn bereits kennen, bevor die mexikanische Mafia ihn als Geldeintreiber engagiert und damit auf Moss ansetzt. Zuvor wird gezeigt, als Unterstreichung des vorangegangenen Monologs von Bell, wie Chigurh einen Deputy derart brutal erwürgt, dass dessen Halsschlagader platzt. Chigurh, mit einem Namen ausgestattet, dessen Herkunft undefinierbar ist, wird stets als ein sehr stiller Mann gezeigt, der in Gesprächen oft Sätze von anderen wiederholt, als habe er Mühe, sich anders zu verständigen. Dass er zudem kein wirkliches Motiv für seine Morde und Jagd auf Moss zu haben scheint, trägt zusätzlich zu seiner Unheimlichkeit bei. Die Auftraggeber der mexikanischen Mafia bringt er um, nachdem er den Peilsender von ihnen ausgehändigt bekommen hat. Das Geld hat er am Ende auch nicht, obwohl es Hinweise darauf gibt, dass er den Koffer gefunden und mitgenommen hat. Im Roman bringt er das Geld sogar zur Mafia zurück. Seine charakteristischen Waffen sind einerseits eine Schrotflinte mit einem überaus großen Schalldämpfer und andererseits ein mit Luftdruck betriebenes Bolzenschussgerät. Ersteres ist die größte Waffe des Films (was schon in sexuell-psychologischer Hinsicht Bell und Moss in den Hintergrund drängt) und letztere ist eine Waffe, die einzig und allein „zum Töten, nicht zum Schutz“ dient, was die Erbarmungslosigkeit von Anton Chigurh unterstreicht. Schließlich ist Chigurh die Personifizierung von dem Bösen, für das Bell so wenig Verständnis aufbringen kann. Chigurh, der vollkommen irrational zu handeln scheint, lässt sich nicht einordnen, nicht deuten und vor allem nicht prognostizieren. Er ist vom Beginn bis zum Ende des Films eine unaufhaltbare Tötungsmaschine, die so standhaft ist, dass sie durch den Zufall am Ende ins Wanken gebracht werden muss (mehr dazu in Teil 3.4). Interessant, aber nicht abschließend mit Bestimmtheit zu klären, ist die Frage, ob Chigurh ein Nachfahre der amerikanischen indigenen Bevölkerung ist. Damit wäre er ein weiterer deutlicher Bezug zum klassischen Western-Genre, da die Indianer eines der Kernelemente der früheren Filme waren. Für diese These spräche die Tatsache, dass er die einzige der drei Hauptfiguren ist, der keinen Cowboyhut trägt. Tatsächlich scheint sein Kleidungsstil gar nicht in diese Welt zu passen, einzig die Cowboystiefel zeigen, dass Chigurh eine Verbindung zu dieser Umwelt hat. Zudem verschluckt er sich in einer Szene, in der ihm ein Tankwart erklärt, er habe in sein Land „eingeheiratet“, da der Besitz vorher den Eltern seiner Frau gehörte. Chigurh wirkt daraufhin beleidigt - der Genozid und die Vertreibung seines Volkes wird auf das Äußerste trivialisiert. Die Rache für das Auslöschen seines Volkes würde damit das Motiv für seine Taten liefern, das die Figuren und Zuschauer andauernd zu finden versuchen. Und diese Rache wäre eines der klassischen Western-Motive. Javier Bardem lässt sich nur schwer ein festes Image zuordnen. So war er vor dem Film in Amerika dem Publikum beinahe gänzlich unbekannt. Möglicherweise ist genau dies seine große Stärke gewesen; er kam aus dem Nichts und blieb haften, da er sich als eindrucksvoller Schauspieler bewies.