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MBs Kommentarspalte: Godards "The Image Book" ist der wichtigste Film des Jahres

von Levin Günther

Als der neueste Film der französischen Filmlegende Jean-Luc Godard, der einst mit Außer Atem das Weltkino bis in die Grundstruktur der Filmsyntax grundlegend erweiterte, auf den Filmfestspielen in Cannes in der traditionellen Preisverleihung leer ausging, wurde kurzerhand ein neuer Preis erfunden. Die Special Palme D’Or ging an Jean-Luc Godard und seinen Film The Image Book. Was zunächst bei diesem Autor die Vermutung entfachte, man wolle Godard noch schnell vor dessen Ableben irgendwas in die Hände schmeißen - schließlich ist der Franzose mit acht Einladungen zum Festival bereits ein alter Bekannter. Und dennoch steckt mehr hinter der Auszeichnung für diesen Film. Und das, weil hinter dem Film mehr steckt. Weil er überaus wertvoll, wenn nicht gar der wichtigste Film des Jahres ist. Warum, das wird folgend erläutert.

Denn Godard ist ein Filmemacher, der, nachdem er eine Reihe von exzentrischen, aber stets schnell fassbaren Werken inszeniert hat, in eine andere Art von Kino abgedriftet ist. Wie kein anderer erfasste und untersuchte er stets die Theorie des Films und Kinos an sich und deren Wechselwirkung mit der gelebten Realität. Von seinem Erstlingswerk Außer Atem, einem Kriminal- und gleichzeitig Essayfilm über den Film Noir, bis zu den späteren weitaus experimentelleren Werken; kulminiert sicherlich in dem umfassenden Videoprojekt Histoire(s) du Cinéma. Hier lässt sich gar kein spielfilmartiger Plot mehr ausmachen, viel mehr verwendet Godard Ausschnitte anderer Werke, multiple Tonspuren und Querverweise durch die gesamte Kunstgeschichte, um seinen Blick auf die Menschheit zu werfen.

The Image Book funktioniert dabei ähnlich; es ist ein experimenteller Film, der hauptsächlich bestehende Filmschnipsel nutzt (vom Hollywoodklassiker bis zu Handyaufnahmen aus dem Internet). Von großen Gesten in ur-amerikanischen Western bis zum Vater, der seine Tochter filmt oder Propaganda- und Tötungsvideos des Islamischen Staates. Natürlich lässt Godard diese Ausschnitte nicht für sich stehen. Viel mehr kommentiert er sie, mal als Erzähler, mal mit Schrift im Bild. Er verzerrt die Farben und Kontraste, arrangiert die bestehenden Werke neu und bettet sie in einen Kontext ein. Godard ist ganz und gar dem Medium Film verschrieben; dabei begrenzt er das, was ein Film ist, nicht auf Genre, Filmlänge oder Budget. Er definiert Film als jegliche Bewegtbildaufnahme. Seine These: Jeder Film, egal wie lang, egal wie teuer, egal aus welchem Grund hergestellt. Jeder Film hat Macht.

Jeder Film hat Macht, nur wird diese Macht oftmals von den Zuschauern verspielt. So auch geschehen in der offiziellen Kritik hier auf Moviebreak, die The Image Book negativ, fast schon trotzig bis herablassend bespricht. Lediglich für ein interpretierfreudiges Publikum sei der Film sehenswert. Das klingt abschreckend. Und sicherlich wird jeder Zuschauer von Godard vor den Kopf gestoßen, schließlich sind die Unmengen an Referenzen nur schwer in ihrer unfassbaren Dichte und Geschwindigkeit zu verstehen. Doch ebenso oft nimmt Godard seinen Zuschauer zärtlich an die Hand und geleitet ihn durch seinen Bilderreigen. Und der Kern des Films, der wird von Godard wortwörtlich eingesprochen, der wird von seinen Bildern und den Farbspielereien überaus deutlich gemacht. Um diesen Kern zu erfassen, bedarf es keinerlei Intellektualität. Und dieser Kern ist es, der The Image Book zu dem ungemein wichtigen Film macht, der er ist.

Godard erwartet jedoch von seinem Zuschauer etwas. Er erwartet Aufmerksamkeit und er bindet ihn als Zuschauer in seinen Film hinein. Zurück zu dem eingangs erwähnten Vater, der seine Tochter filmt. Er filmt sie dabei, wie sie zum ersten Mal einen Zug heranfahren sieht. Ein Verweis auf das berühmt-berüchtigte Filmwerk der Gebrüder Lumière. Mit dem Unterschied, dass mit dem Mädchen das Publikum gefilmt wird, wie es diesen Film damals der Legende nach erlebt hat. Es geht also nicht mehr um den Film an sich, sondern darum, wie der Zuschauer damit umgeht. Desinteresse, wie in der offiziellen Kritik zum Ausdruck gebracht, ist fatal, denn Godard nimmt einen notwendigen Standpunkt ein. Wenn der Zuschauer nur eine Sache bei diesem Film versteht, es sollte diese sein: Die arabische Welt wird einzig über den Islamismus, die Religion des Islams und (medial) über Terrorvideos des Islamischen Staates definiert. Dabei, so Godard, bestehe die arabische Welt hauptsächlich aus Landschaften. Godard zeigt uns diese Landschaften, er zeigt uns die endlosen Wüsten und das Meer unter goldenem Himmel. Er zeigt uns Jungs, die voller Neugier in das Meer starren. Und er besinnt den Zuschauer darauf, seine Vorurteile zu überdenken. Eine ganze Welt wird schließlich wegen weniger Tausend Menschen über einen Kamm geschoren. Und das gleiche Maß an Desinteresse jener, die in der Realität ihre Vorurteile nicht hinterfragen, wurde The Image Book in der Kritik fälschlicherweise entgegengebracht.

Jean-Luc Godard hat mit The Image Book sein humanistischstes Werk inszeniert. Er hat einen Film gedreht, der in Momenten der medialen Panik dazu aufruft, die eigenen Vorurteile zu überdenken und sich von der Panik nicht anstecken zu lassen. Die Tötungsvideos des Islamischen Staates zeigen auch nichts anderes als das Hollywoodkino der 40er Jahre, Godard stellt die Ausschnitte nebeneinander. Wer darin eine Verherrlichung der realen Tötungen sieht, versteht einmal mehr den Filmemacher nicht. Denn das Kino war schon immer ein Spiegel der Realität und die Realität immer schon ein Spiegel des Kinos. Das war so, als ein ganzes Publikum Angst vor einem einfahren Zug hatte. Das war so in den 40er Jahren, als Unmengen von Menschen auf der ganzen Welt in perversesten Situationen starben. Das ist heute so, nur scheint das Publikum seinen Mut verloren zu haben, sich dem eigenen Spiegelbild zu stellen.

Zu Beginn von The Image Book unterhalten sich in einem Hollywoodklassiker zwei Figuren. Der Mann sagt: "Sag mir, dass du mich immer noch so sehr liebst, wie ich dich.“ Die Frau, das Kino, antwortet nicht. Am Ende tanzt das Kino jauchzend mit einem Mann, so wild, bis der Mann am Boden liegt. Das Kino schaut auf den am Boden liegenden Mann herab - der Blick ist undefinierbar. Aber egal sind wir dem Kino noch nicht. Noch nicht.

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