Nachdem das, wofür die Filmfestspiele von Venedig vielerorts berühmt, mancherorts aber auch berüchtigt sind—das offizielle Einläuten der Oscarsaison, mit einem überbordenden Staraufgebot—im letzten Jahr aufgrund der Streiks in Hollywood zumindest teilweise ins Wasser gefallen war, setzt die Festivalleitung um Alberto Barbera 2024 alles daran, dieses Kapitel hinter sich zu lassen. Barbera, dessen auslaufender Vertrag als kreativer Leiter des ältesten Filmfestivals der Welt erst im Mai um zwei weitere Jahre verlängert wurde, und unter dessen Ägide Venedig wieder den Glanz vergangener Zeiten zurückgewonnen hat, war in den vergangenen Jahren vor allem daran gelegen, die großen Hollywood-Studioproduktionen auf den Lido zu lotsen. Zwischenzeitlich war auch Netflix zu einem dieser Prestige-Studios geworden, was mehr oder weniger ambitionierte Prestige-Projekte wie Alfonso Cuaróns Roma, Jane Campions The Power of the Dog (beide gingen mit dem Goldenen Löwen nach Hause), Andrew Dominiks Blonde oder Paolo Sorrentinos The Hand of God in die Lagunenstadt führte.
Doch nachdem Netflix im Vorjahr noch mit fünf Projekten vertreten war, hat man im Hause des Streaming-Giganten auf Produktionsebene vom Prestige-Kino erst einmal Abschied genommen. So zumindest könnte es angesichts des völligen Fernbleibens des Streamers scheinen. Wirklich nur vorläufig sei dieser Zustand, so versicherte Barbera im Vorfeld. Man unterhalte immer noch hervorragende Beziehungen mit den Netflix-Verantwortlichen, und für das nächste Jahr stünden bereits große Titel in den Startlöchern (Barbera allerdings mied, beim Namen zu nennen). Zur Erinnerung: Im Vorjahr vertraten mit Pablo Larraíns Vampir-Satire auf den chilenischen Diktator Augusto Pinochet, El Conde, J. A. Boyonas internationaler Oscar-Erfolg Society of the Snow, David Finchers The Killer, Wes Andersons Anthologie-Reihe The Wonderful Story of Henry Sugar, basierend auf den gleichnamigen Roald-Dahl-Geschichten, sowie Bradley Coopers Maestro, für den ihn nach A Star Is Born erneut die Oscar-Nominierung als bester Regisseur versagt geblieben war.
Eine weitere, wenngleich diffusere Entwicklung stellt die Vorjahres-Nominierung Pietrangelo Buttafuocos zum neuen Präsidenten der Biennale von Venedig dar. In ihm findet die oft als „Post-Faschistin“ bezeichnete italienische Premierministerin Georgia Meloni einen ganz außergewöhnlichen Verbündeten am allerrechteten Rand des politischen Spektrums. Ein Mann, immerhin, der einst den jungen Flügel der mittlerweile aufgelösten neo-faschistischen MSI—die politischen Erben Mussolinis und seiner Faschisten — anführte, und der Silvio Berlusconi nach dessen Tod im Vorjahr stolz zum Erz-Italiener erklärte. Im Interview hatte Barbera zwar unterstrichen, dass er im Selektionsprozess keinerlei Arten der Zensur oder Einschränkungen erlebt habe. Gleichzeitig ist das Kino der Biennale aber durchaus davon geprägt, den italienischen Nationalstolz in ungeahnte Höhen zu befeuern. So zu sehen etwa im letztjährigen Comandante, eine geschichtsvergessene Verklärung des italienischen Nationalgeistes über eine italienische U-Boot-Mannschaft während des Zweiten Weltkrieges, der durch das streikbedingte Fernbleiben von Luca Guadagninos Challengers spontan zum Eröffnungsfilm des Festivals wurde.
In diesem Jahr stehen die Vorzeichen für Guadagnino und seine William-S.-Borroughs-Adaption Queer ungleich besser. Von Festivalleiter Barbera als das größte Werk in der bisherigen Karriere des Italieners beschrieben, werden wir dort Daniel Craig — laut Barbera ebenfalls mit einer karrieredefinierenden Performance — als fiktionalisierten Autor Borroughs sehen, dessen Alter Ego Lee auf eine Periode seines Lebens in Mexico City zurückblickt. Eine Zeit, da er vom Heroin runter war. Im Wissen, dass Guadagnino Zeit- und Lokalkolorit vollständig in der Cinecittá, dem größten Filmstudio Europas, erschaffen hat, wird es spannend zu sehen sein, inwiefern Guadagnino mit diesem Meta-Aspekt zu spielen bereit ist. Und wie stark es ins Gewicht fallen wird, dass der Italiener die Ursprungsfassung von über drei Stunden auf 2 Stunden und 15 Minuten getrimmt hat.
Ein Filmemacher, der auf ähnliche Weise für sein queeres Kino bekannt ist, ist Pedro Almodóvar, der nach Madres paralelas 2021 auf den Lido zurückkehrt. Dass der Spanier auch im hohen Alter von 74 Jahren noch neue Wege zu bestreiten bereit ist, beweist er mit seinem ersten Spielfilm in englischer Sprache, eine Adaption des Romans What Are You Going Through der amerikanischen Schriftstellerin Sigrid Nunez, der trotz oder gerade wegen des schwierigen zentralen Themas, Suizid, darum bemüht ist, nicht den Sinn für Humor aufzugeben. Mit Tilda Swinton, Julianne Moore und John Turturro in den Hauptrollen sind die Weichen für ein solches Bestreben jedenfalls gestellt.
Neben Guadagnino und Almodóvar treten dieses Jahr 19 weitere Filme um den Hauptpreis, den Goldenen Löwen von Venedig, an. Darüber zu befinden, wer die Nachfolge zu Yorgos Lanthimos‘ Poor Things antreten wird, obliegt in diesem Jahr keiner geringeren als der Grande Damme des Weltkinos, Isabelle Huppert. Nach Cannes 2009, als sie die Palm d’Or an ihren engen Vertrauten Michael Haneke für Das weiße Band vergeben hatte—eine aufgrund des unverkennbaren Interessenskonfliktes bis heute umstrittene Entscheidung—bedeutet die Verantwortung über die Verleihung dieses prestigeträchtigen Preises eine Weitere Adelung in der langen und illustren Karriere Hupperts.
Der zweifelsohne meisterwartete der 21 Filme, über die Huppert, gemeinsam mit James Gray, Andrew Haigh, Agnieszka Holland, Kleber Mendonça Filho, Abderrahmane Sissako, Giuseppe Tornatore, Julia von Heinz und Zhang Ziyi zu richten haben wird, ist Todd PhillipsJoker: Folie à Deux. Nachdem Phillips 2019 mit Joker ein Coup sondergleichen gelungen war, gekrönt mit 11 Oscar-Nominierungen und nicht zuletzt dem „Leone d'oro“ aus den Händen der damaligen Jury-Präsidentin Lucrecia Martel, dürfte Folie à Deux alles mitbringen für einen etwaigen Award-Reigen, allen voran Lady Gaga. Als Musical konzipiert, wenngleich, aus ökonomischen Gründen, nicht mit voller Inbrunst als solches beworben, schickt sich Phillips‘ mit seinem aufgrund der Einspielerfolge des ersten Teils unvermeidlichen Sequel einmal mehr an, neue Wege im scheinbar auserzählten Superhelden-Genre zu bestreiten. Ob man dieser Vision nun etwas abgewinnen kann oder nicht.
Ebenfalls im Rennen um den Goldenen Löwen, und ein paar Stufen waghalsiger, kündigt sich Brady Corbets The Brutalist an, ein dreieinhalbstündiges Epos auf 70 Millimeter über einen ungarischen Holocaust-Überlebenden, der nach dem Zweiten Weltkrieg ein neues Leben in den USA beginnt, das nach dem Aufeinandertreffen mit einem besonders wohlhabenden Klienten eine neue Richtung einschlägt. Corbet kehrt nach 2018, als er mit Vox Lux für viel Aufmerksamkeit sorgte—ein umstrittener Film, in dem Trauma, Stardom und Gewalt großflächig zusammengedacht wurden—in den Wettbewerb der Mostra zurück.
Ebenfalls mit großer Spannung dürfte Pablo Larraíns Maria erwartet werden. Für die einen schlicht aufgrund der unsterblichen Strahlkraft des Mythos Maria Callas, der berühmtesten Opernsängerin des 20. Jahrhunderts, die selbst der große Leonard Bernstein einst die „Bibel der Oper“ nannte. Für die anderen wegen Angelina Jolie. Denn während Larraín—nach Jackie und Spencer—seine Biopic-Reihe um die großen Frauen des 20. Jahrhunderts weiter fortsetzt, handelt es sich für Jolie um das erste große Prestige-Projekt seit—ja, seit wann eigentlich? Dass sie nun die Frau mit der einzigartigen Klangfarbe porträtiert, sorgt im Spätsommer 2024 für extra Pikanterie, wird doch ihr Ex-Mann Brad Pitt mit dem Out-of-Competition-Film Wolfs (Regie: Jon Watts) ebenfalls auf dem Lido zugegen sein. Allerdings haben Barbera und sein Team die Termine so gelegt, dass Jolie und Larraín längst in den Bergen von Colorado beim Telluride-Festival sein werden, wenn Pitt, gemeinsam mit seinem Freund George Clooney, den roten Teppich betreten, um die Premiere des Apple-Filmes Wolfs zu feiern. Dass auch solche privaten Fehden bei der Festivalplanung berücksichtigt werden, zeigt, welch intrikate Voraussicht in eine jede Programmierung einfließt.
Neben diesem ans Absurde bordenden Personenkult zeigen sich die kreativen Leiter aber auch bemüht, ein diverseres Line-Up mit neuen Gesichtern zu präsentieren. So befänden sich unter den 21 Wettbewerbsfilmen, wie Barbera mit Stolz berichtete, immerhin neun Regisseur*innen, die zuvor noch nicht um den Goldenen Löwen angetreten sind. Eines dieser neuen Gesichter gehört Halina Reijn, einer Niederländerin, die nach Instinct und Bodies Bodies Bodies mit dem englischsprachigen Erotik-Thriller Babygirl aus dem Hause A24 bereits ihren dritten Spielfilm abliefert. Darin lässt sich Nicole Kidman als CEO auf eine Affäre mit ihrem von Harris Dickinsons gespielten Praktikanten ein. Antonio Banderas, so ist zu diesem Zeitpunkt nur zu mutmaßen, dürfte ihren Ehemann spielen.
Halina Reijn ist nur eine von sieben Regisseurinnen im Wettbewerb, ein traditionelles Repräsentationsdefizit, dessen die Festivals insbesondere von Cannes und Venedig noch immer nicht habhaft geworden sind. Insgesamt kommt der Wettbewerb gar nur auf sechs Filme, die von Frauen inszeniert wurden, da die Schwestern Delphine and Muriel Coulin sich den Regiestuhl für The Quiet Son teilen. Nachdem ihre letzten Spielfilme 17 Girls (2011) und The Stopover (2016) noch in den Cannes-Nebensektionen Semaine de la Critique und Un Certain Regard debütierten, bedeutet die Teilnahme am Wettbewerb der Mostra 2024 für die Geschwister die nächste Karrierestufe. Basierend auf dem Roman Ce qu’il faut de nuit von Laurent Petitmangin erzählen sie darin von einem verwitweten Familienvater (gespielt von Vincent Lindon), der seine beiden Söhne erziehen muss, feststellend, dass sich die politischen Risse, die sich durch die Grande Nation ziehen, auch in seiner Familie widerspiegeln. Überhaupt nicht vertreten im Wettbewerb sind unterdessen Black People of Color, was, man mag es wenden, wie man möchte, kein gutes Licht auf das Festival wirft.
Traditionell stark vertreten ist das asiatische Kino. Auf der kaukasischen Grenze zwischen Europa und Asien liegt etwa Georgien, das Heimatland Dea Kulumbegashvilis, die mit April ihr Nachfolgeprojekt zu Beginning vorlegt, der seinerzeit in Toronto Premiere feierte. Hierin geht es um das immer wiederkehrende Thema der eingeschränkten Freiheit von Frauen über ihre Körper und Abtreibungen. Daneben schließt der chinesische Dokumentarfilmer Wang Bing sein Mammutprojekt Youth ab, eine großangelegte Studie über die migrantischen Textilarbeiter*innen in der Stadt Zhili, unweit von Shanghai. Die Trilogie, die mit Youth: Spring in Cannes 2023 ihren Anfang nahm und kürzlich in Locarno mit Youth: Hard Times ihre Fortsetzung fand, wird nun durch Youth: Homecoming zu einem Ende geführt. In diesem abschließenden Teil bleibt Wang erneut ganz nah an seinen Figuren und begleitet sie dabei, wie sie versuchen, für das chinesische Neujahr nach Hause zu reisen.
Hellhörig macht überdies die Präsens Yeo Siew Huas, ein singapurischer Filmemacher, dessen Zweitfilm A Land Imagined 2018 den Goldenen Leoparden von Locarno gewann. In seinem neuen Thriller Stranger Eye geht es, wie bereits im Titel anklingt, um das Sehen, und insbesondere um das gleichzeitige Beobachten und Gesehenwerden. Denn als das Baby eines jungen Paares verschwendet, müssen die Eltern bald feststellen, dass sie für eine geraume Zeit schon unter Beobachtung stehen.
Ähnlich genrelastig schickt sich Justin Kurzels The Order an, dem ersten Spielfilm seit Nitram, der 2021 im Wettbewerb von Cannes Premiere feierte. Mit Stars besetzt wie Jude Law, Nicholas Hoult, Tye Sheridan sowie Odessa Young verspricht dieser in Idaho angelegte Bankräuber-Krimi, ähnlich womöglich zu Finchers The Killer aus dem Vorjahr, allen voran Unterhaltungskino in den Wettbewerb zu bringen. Dem Gegenüber, zumindest auf dem Papier, präsentiert sich Vermiglio von Maura Delpero, der uns, angesiedelt in der Zeit des zweiten Weltkriegs, in ein abgelegenes Bergdorf führt, wo die Ankunft eines Soldaten das Leben dreier Schwestern nachhaltig verändert. Da Delpero 2019 mit Maternal bereits einen Achtungserfolg in Locarno vorweisen konnte, bleibt allerdings zu hoffen, dass die junge Italienerin das explosive Potenzial ihrer Geschichte aufzugreifen weiß. Dem nicht ganz unähnlich präsentiert sich der Prämisse nach Walter SallesI’m Still Here, eine Adaption des gleichnamigen und autobiografischen Buches Marcelo Rubens Paivas, in dem wir ins Brasilien des Jahres 1971 geworfen werden—eine Zeit, als das Land einer Militärdiktatur unterstand. Während dieser Zeit gerät die fünffache Mutter Eunice Paiva in größte Nöte, als ihr Ehemann, der frühere Kongressabgeordnete der Arbeiterpartei, Rubens Paiva (und Vater des Buchautors Marcelo), eines Tages verschwindet.
Skeptisch lässt sich indes auf And Their Children After Them blicken, den neuen Film von Ludovic und Zoran Boukherma, sind die (kritischen) Erfolge in der bisherigen Filmographie der französischen Zwillingsbrüder doch rar gesät. Angesichts der Prämisse—eine Coming-of-Age-Geschichte im östlichen Frankreich im Sommer 1992—bleibt abzuwarten, ob ihnen mit ihrem neuesten Film nun der Durchbruch gelingt. Ebenfalls französisch, wenngleich inspirierter, dürfte Emmanuel Mourets Three Friends daherkommen, ein Film, in dessen Mittelpunkt drei Freundinnen auf die eine oder andere Weise ihr Verständnis von Liebe und Partnerschaft auseinandersetzen und zu überdenken lernen.
Standesgemäß im Wettbewerb des größten italienischen Filmfest vertreten sind überdies die italienischen Landsmänner und -frauen jenseits Luca Guadagninos. Eine von ihnen, wenngleich im texanischen Houston geboren, ist Giulia Steigerwalt, die in ihrem Zweitfilm Diva Futura anhand der titelgebenden Casting- und Produktionsagentur die Hochzeit der Home-Video-Pornographie nachzeichnet. Hinzu kommt der obligatorische Mafia-Film, ohne den eine jede Mostra nicht das gleiche wäre. In diesem Jahr entstammt sie der Feder Fabio Grassadonias und Antonio Piazzas, die sowohl für Drehbuch als auch Regie von Sicilian Letters verantwortlich zeichneten.
Während Grassadonia und Piazza nur einen kurzen Sprung in die Vergangenheit wagen—die frühen 2000er—reist Gianni Amelio mit Battleground ins Jahr 1918, ans Ende des Ersten Weltkrieges, und konfrontiert uns mit einer Gegenüberstellung, wie insbesondere angesichts des Ukrainekrieges aktueller nicht sein könnte. In einer Klinik lernen wir zwei Ärzte kennen, die angesichts der eintreffenden verletzten Soldaten zwei unterschiedlichen moralischen Prinzipien folgen: der eine ist darum bemüht, die Patientin nach bestem Gewissen zu versorgen und möglichst zu heilen. Der andere hingegen, wohlwissend, dass viele der Soldaten nur angeschlagen genug bleiben wollen, dass sie nicht wieder in den Krieg eingezogen werden, versucht sein Bestes, diesem Wunsch nach Kriegsverweigerung nachzukommen. Zu einer Zeit, da viele deutsche Politiker*innen fast aller Couleur damit liebäugeln, geflüchtete ukrainische Männer wieder in ihr Heimatland zurückzuschicken, um ihr Land mit dem Leben zu verteidigen, ließe sich unsere Gegenwart kaum sinnbildlicher spiegeln.
Buchstäblich noch näher an der Gegenwart befindet sich der Norweger Dag Johan Haugerud mit seiner „Sex Drømmer Kjærlighet“-Trilogie. Nachdem Sex in diesem Frühjahr bereits eine vielbeachtete Premiere bei der Berlinale feierte, entwickelt Haugerud mit Love sein Interesse an den mannigfaltigen Abzweigungen heutiger Liebesvorstellungen weiter fort.
Gänzlich der Zeit zu entfliehen ist indes das Ziel der Griechin Athina Rachel Tsangari, die in eihrer Parabel Harvest erforscht, wie Neuankömmlinge in einer Gemeinschaft allzu schnell zu Sündenböcken eben jener Gemeinschaft werden können.
Wie so viele der diesjährigen Wettbewerbstitel ist auch El Jockey, der neue Film des Argentiniers Luis Ortega, von der Literatur inspiriert. In diesem Fall, wenn auch nur auf indirekte und spirituelle Weise, handelt es sich um Jack Londons The Star Rover, der die Grenzen unserer Innen- und Außenwelt auslotet. Selbiges, so Ortega, sei auch in seiner Geschichte um einen selbstzerstörerischen Jockey in Buenos Aires von zentraler Bedeutung.
Der Rest: Serien und Nebensektionen
Wie schon in den Vorjahren fasst die Mostra den Kinobegriff auch in diesem Jahr in einem erweiterten Sinne auf, was bedeutet, dass nach Nicolas Windin Refns Copenhagen Cowboy und Lars von Triers The Kingdom Exodus, die 2022 beide in voller Länge auf dem Lido Premiere feierten, auch 2024 vielversprechende Serienformate auf dem Lido gezeigt werden. Allen voran steht da sicherlich Alfonso Cuarón, der für seine Apple-Serie Disclaimer auf das Talent Cate Blanchetts als Hauptdarstellerin und seinen langjährigen Weggefährten Emmanuel Lubezki als Kameramann (neben Bruno Delbonnel) setzt. Der 2015 erschienene Debütroman aus der Feder Renée Knights, der der Serie zugrundeliegt, wurde seinerzeit in der New York Times als eine herausragend clevere und wendungsreiche Geschichte beschrieben, in der die Protagonistin Catherine ein dunkles Kapitel ihres eigenen Lebens detailgetreu in ihrer neuesten Nachttisch-Lektüre abgebildet findet und daraufhin in Panik gerät. Während das Buch noch mit dem rot durchstrichenen Meta-Disclaimer wirbt, dass es keine Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen gebe, setzt die Serie nun noch einen drauf, wo es heißt: Jedwede Ähnlichkeit zu lebenden oder verstorbenen Personen ist KEIN Zufall.
Neben Cuarón stehen mit Joe Wrights M. Il figlio del secolo, einer von SKY-Serie vertriebenen Serie über den Aufstieg Benito Mussolinis, sowie Thomas Vinterbergs Families Like Ours zwei weitere Großkaliber im Zentrum der Aufmerksamkeit. Thomas Vinterberg, der im COVID-Jahr mit Another Round seinen großen Oscar-Erfolg feierte, führt hier sein Ur-Thema aus Festen—dysfunktionale Familien—mit der Klimakatastrophe zusammen. In einer nicht allzu fernen Zukunft ist der Meeresspiegel auf solche Maßen angestiegen, dass die dänische Bevölkerung evakuiert werden und sich die Gymnasiastin Laura entscheiden muss, ob sie mit ihren geschiedenen Eltern oder ihrer neuen Flamme weggeht.
Zudem werden auf der diesjährigen Biennale auch Filme in den Sektionen Orrizonti, Orrizonti Extra, Out of Competition, der Woche der Kritik sowie der Giornate degli Autori gezeigt, in denen es traditionell darum geht, Perlen aus den tiefen des Line-Ups zu bergen. Außer Konkurrenz ist nach Chime auf der Berlinale mit Cloud ein weiterer Kiyoshi-Kurosawa-Film zu sehen. Und auch Indie-Darling Alex Ross Perry dürfte mit Pavements, eine Hybrid-Form aus Dokumentation und Fiktion über die Band Pavement, Spannendes anzubieten haben. Wie gut das Perlentauchen in den kommenden zwei Wochen so gelingt, darüber wird Moviebreak, einmal mehr in Person Lida Bachs und Patrick Feys, Bericht erstatten. Durch zahlreiche Kritiken, Podcasts, und Interviews.