Diese Kritik bezieht sich auf die sechseinhalbstündige Serienfassung, nicht auf die Filmversion mit einer Laufzeit von gut 140 Minuten.
Story:
Manami weiß nicht, dass sie die Auserwählte ist, einen Vampirclan durch ihr Blut in eine neue Ära der Macht zu leiten. Auch weiß sie zu Beginn nicht, dass sie sich in einen vampirischen Bandenkrieg ziehen lässt, der im Tokyo Vampire Hotel seinen Höhepunkt erreichen soll.
Kritik:
"Ihr habt zehn Minuten, um einen Partner zu finden, auf euer Zimmer zu gehen und dann zu ficken."
Eine neue Serie im Angebot von Streaming-Anbietern ist mittlerweile kein Grund für eine Sensation mehr. Wenn aber so gestandene Filmemacher wie David Fincher (Mindhunter), Joel und Ethan Coen (Die Ballade von Buster Scruggs) oder Sion Sono auf dem Regiestuhl der Produktion Platz nahmen, dann ist mal wieder Zeit für hochgezogene Augenbrauen. Da kann selbst der größte Serienmuffel nicht lange weitermuffeln; wenn Großkaliber rufen, dann folgt man als Filmfan. Amazons eigene Streaming-Plattform Prime Video hat nun also das japanische Enfant terrible, den wohl kreativsten und überraschendsten Regisseur des Landes an die Hand genommen und ihn einfach mal machen lassen. Wahrscheinlich gut so. Vielleicht zeichnet sich jedoch in dieser Strategie ein Problem ab. Doch dazu später mehr.
Das längste Werk von Sion Sono, der von vielen als sein bester Film angesehene Love Exposure, hatte bis dato eine Laufzeit von ungefähr vier Stunden. Das Tokyo Vampire Hotel legt noch einmal zwei Stunden oben raus und geht dabei einen etwas chaotischen Weg. Die Folgen haben keine feste Laufzeit; sie sind so lang, wie sie es eben geworden sind. Mit mindestens 28 und höchstens um die 50 Minuten schafft Sono es dennoch, jede Folge mit so viel visuellen Reizen vollzustopfen, dass man mehrfach gar nicht wissen kann, wie einem eigentlich geschieht. Sono fackelt nicht lange, er ist schließlich da, um auf die Kacke zu hauen. Werden in der ersten Folge noch hauptsächlich die vampir-mythologischen Hintergründe erklärt und mit der Hauptfigur Manami (Ami Tomite, Antiporno) in Verbindung gebracht, werden am Ende der Folge bereits die letzten zwei Stunden der Menschheit via Countdown angeteasert.
Natürlich erzählt Sono diese zwei Stunden nicht brav chronologisch aus. Viel mehr springt er vor und zurück, hin und her. Von Transylvanien nach Tokyo in weniger als einem Wimpernschlag. Der Extremregisseur erzählt den Vampirmythos dabei in einer dezent eigenen Version und in seiner komplett eigenen Art. Die Mutter des Vampirhotels verschlingt schließlich erwachsene Menschen mit ihrem überdimensionierten Schoß - die Natur frisst ihre Kinder auf. Irgendwie. Und wenn dann die Welt untergeht, wird aus dem Hotel ein letzter Hort, ein Mikrokosmos aus Enttäuschung, Endlosigkeit und Frustration, aus Sex und Gewalt, Korruption und Überwachung und schließlich wieder aus Enttäuschung. Das Hotel wird zum Fort Knox der Exklusion; Faschismus im Hosentaschenformat. Eine stete Angstmache vor dem Fremden "da draußen“ geht dabei Hand in Hand mit Euthanasie, Rassendenken und dem Traum der Überspezies. Der Krieg der beiden Vampirclans zieht riesige Kollateralschäden mit sich - die Menschlichkeit bleibt erzwungenermaßen außen vor.
Sion Sono findet immer wieder herausragende Wege, um visuell Eindruck zu schinden. Wie schon in Antiporno ist der Regisseur völlig entfesselt, was Farb- und Lichtdramaturgie betrifft. Er schmeißt einfach alles in die Waagschale, was sich nur schmeißen lässt. Tokyo Vampire Hotel ist knallig, bunt, wild und so hyperaktiv spritzig, dass die sechs Stunden an sich verfliegen - auch wenn sich keine Sogwirkung einer ausgefeilten Dramaturgie einstellen mag. Der Japaner gleicht das durch seinen enormen Einfallsreichtum aus. Zwischen TV-Look, sattesten Kino-Sequenzen, zwischen infantiler, schwarzer Comedy, überzogener Persiflage, gore-lastigem Horror und Genrereminiszenzen funktioniert die Serie vor allem als flinkes Feuerwerk visueller Reize. Zurecht lässt sich die Staffel dabei unterteilen: Während die ersten fünf-sechs Folgen vor allem aus Chaos, Clan-Kriegen und Kauderwelsch bestehen, fängt Sono sich urplötzlich. Auf einmal geht es um etwas. Auf einmal geht es nicht mehr um die Unterjochung der Menschheit, es geht um die eigene Liebe. Nicht mehr um den Selbsterhaltungstrieb, sondern um den eigenen Platz in dieser Welt, um Selbsthass, um das gebrochene Herz und um das Flehen, dem Leben ein Ende zu setzen. Die Enthauptung wird dabei zum liebevollsten Gnadenakt der jüngsten Seriengeschichte.
Fazit:
Sion Sonos Tokyo Vampire Hotel ist ein äußerst chaotisch buntes Baller-Ballett geworden. Auch wenn die Dramaturgie hin und wieder etwas ungelenk wirkt (und im Nachhinein die erste Hälfte hinter ihren Möglichkeiten zurückbleibt), unterhält Sono einmal mehr mit einem sechsstündigen Wahnsinn der kreativsten Güteklasse. Ein solches Interesse an Farben und Beleuchtung durfte man lange nicht mehr genießen. Vieles ist hier funktional, Vieles folgt bekannten Mustern und so Manches kann durchaus ob seines Lärmpegels auf die Nerven schlagen. Dennoch: Wie Sono die Räumlichkeiten filmisch erfährt und ausnutzt, ist ganz. große. Klasse. Sein Kommentar auf die Macht der Medien, die Macht der Lügen und dem Trugschluss der überragenden Rasse kommt dabei im typischen Sono-Format: Mal brachial, mal auch brachial und dann wieder so überraschen feinfühlig, dass jede Träne einem Schlag in die Magengegend gleichkommt.