Eine kleine Comicbuchhandlung in England, kurz nach Ladenschluss. Zwei, drei Kunden blättern noch seelenruhig durch neue Hefte, der pummelige Ladenbesitzer mit dem viel zu engen T-Shirt schmökert ebenfalls während er hinter seiner Ladentheke steht. Alles sieht nach reinstem Klischee aus. Es wirkt vertraut und irgendwie auch komisch. Dann ertönt die Klingel der Ladentür. Zwei Männer betreten die Szenerie. Der eine schlank und im Anzug, der andere etwas untersetzt, er trägt Alltagskleidung und wirkt geistig ein wenig zurückgeblieben. Die beiden Männer haben eine neongelbe Tasche mit schwarzen Griffen dabei. Sie stellen diese auf den Fußboden. Der dünnere der beiden wühlt darin und zieht schließlich ein Metallrohr heraus. Was dann folgt ist eine Abhandlung von Gewalt, die so kaltblütig und verstörend ist, dass es einem den Atem raubt.
Dabei generiert sich die Härte in diese Szene vor allem aus der systematischen Skrupellosigkeit der beiden Männer mit der neongelben Tasche. In der ersten Episode von „Utopia“ werden sie noch einige Male beweisen zu was sie fähig sind und wie teilnahmslos sie teils drastische Gewalt anwenden können. Dies wird in der Serie allerdings niemals als großes Spektakel verkauft. Gewalt in „Utopia“ ist unangenehm rau uns hässlich. Gewiss ein Stilelement aber keines welches einzig für Schauwerte genutzt wird, sondern um eine Welt auszuformulieren. Eine Welt die etwas Einzigartiges besitzt. Die Serie von Creator und Autor Dennis Kelly, deren erste Staffel sechs Folgen umfasst, bringt uns eine Welt der großen Verschwörungen näher, eine Welt in der die Strippenzieher der Macht in ihren dunklen, Edelholzvertäfelten Büros sitzen und darüber entscheiden wie sie unliebsame Mitwisser beseitigen können.
Diese unliebsamen Mitwisser sind der rebellische Schuljunge Grant (Oliver Woolford), der vom Leben gelangweilte Bürohengst Ian (Nathan Stewart-Jarrett, bekannt aus „Misfits“), die unsichere Rebecca (Alexandra Roach), der Verschwörungsexperte Wilson (Adeel Akhtar) sowie Jessica Hyde (Fiona O’Shaughnessy), die vor allem für die beiden Killer aus dem Comicbuchladen scheinbar eine gar gewichtige Persönlichkeit ist. Denn Jessica Hyde scheint die Graphic Novel „Utopia“ zu kennen. In dieser verbirgt sich die Wahrheit über die grausamen Machenschaften der Institutionen, die die Helden, die bis auf die gesuchte Jessica Hyde wenig wehrhaft sind, töten wollen.
Die Geschichte, die die Serie erzählt, ist natürlich an den Haaren herbeigezogen und k(r)ampft sich gelegentlich auch durch einige Längen, aber den Machern gelingt es ohne größere Probleme, dass man als Zuschauer all diese überfiktionale Reproduktionen sowie deren mitgebrachten Probleme von bekannten Genre-Standards akzeptiert und als frische Brise wahrnimmt. Das liegt schlicht und ergreifend daran, dass „Utopia“ in erster Linie einfach phantastisch aussieht und klingt. Die Farbgestaltung der einzelnen Szenen, die mysteriösen Einleitungspanoramen, die schwer beschreibbare Akustik die im Hintergrund wabern, die gnadenlose Gewalt und darin fest verankert Figuren, die so wahrhaftig wirken, als kämen sie gerade aus einer Dokumentation. Das ist, zugegeben, etwas sehr weit hergeholt, doch „Utopia“ setzt auf erfrischende Weise in Sachen Figurenvielfalt auf eine innovativ wirkende Mischung aus klassischen Genremodellen und scheinbar non-regularen Charakteren, die mit einer guten Dosis reeller Menschlichkeit ausgestattet sind.
Eine Figur, die so eigenartig ist, dass sie für viele bereits als eine Art Maskottchen für „Utopia“ gilt ist Arby (Neil Maskell), der untersetztes, zurückgebliebene Killer mit der gelben Tasche. Sein Auftreten ist meist gleichzusetzen mit Gewalt. Er strömt eine undefinierbare Form der Bedrohung aus. Wie ein tumber Teddybär, der ohne zu Blinzeln selbst einer Mutter in den Kopf schießt, während ihre kleine Tochter vor ihr steht. Von diesem Mann geht eine enorme Faszination aus. Gleichsam morbide wie erfrischend, gefährlich wie anziehend. Es wäre falsch die hohe Qualität von „Utopia“ einzig auf diesen einen Charakter zu beziehen, gleichsam wäre es auch nicht richtig, würde man Arby als eine Figur von vielen bezeichnen. Auch wenn er innerhalb der letzten beiden Folgen etwas weniger präsent wird, kann man ihn durchaus als eine Art Maskottchen der Serie bezeichnen, die leider nach der zweiten Staffel eingestellt wurde. Als Retter in der Not könnte sich David Fincher erweisen, der „Utopia“ als US-Version realisieren will. Ob die Geschichte dann immer noch so böse wie vereinnahmend ist, wird sich zeigen. Über den üblichen Zweifeln gegenüber Remakes thront dann doch die Freude, dass Serienschöpfer Dennis Kelly seine Geschichte vielleicht dann in den Staaten neu und dann zu Ende erzählen kann. Es wäre wünschenswert.
Die DVD: Die erste Staffel befindet auf zwei DVD-Discs (die Blu-ray stand uns leider nicht zur Verfügung). Die technische Umsetzung aus dem Hause Polyband ist eigentlich einwandfrei. Ton und Bild sind für eine DVD makellos. Was allerdings seltsam war, waren wenige Szenen, in dem der Ton immer wieder automatisch ins englische gewechselt hat. Vor allem bei der Pilotfolge trat dieses „Problem“ auf. Das sollte nicht passieren, auch wenn die Serie erst im Originalton ihren kompletten Reiz entfaltet. Als Extra warten einige wirklich interessante wie aufschlussreiche Interviews, die sich mit der Welt von „Utopia“ auseinandersetzt und auch die eindringliche Gewalt der Serie behandelt. Auch die Audiokommentare sind sehens-, bzw. hörenswert.
Fazit: Staffel eins von „Utopia“ bietet sechs Folgen die einen packen, durchschütteln, faszinieren und verzücken. Der teils drastische Gewaltgrad sowie die wunderbar durchkomponierte, eigensinnige Stilistik der Serie, wird sie allerdings auf eine Zuschauerschaft beschränken, die gewillt sind, etwas Neues zu wagen. „Utopia“ ist im Grunde nicht mehr als ein langgezogener Verschwörungs-Thriller, bietet dieses relativ durchgekaute Sub-Genre aber umwerfend hochwertig und außergewöhnlich an. Angucken! Auch wenn nach Staffel 2 schon wieder Schluss ist.
Wertung: 8 von 10