Nach einem Jahr voller Festivals, vom stundenlangen Schlangestehen für die Pressevorführungen in Sundance über den stadtweiten Stromausfall in Cannes bis zum Aufeinanderprallen von politischen Protesten politischem Phlegma in Venedig, wirkt das Marrakech International Film Festival fast utopisch. Die 22. Ausgabe des bedeutendsten Film- und Kino Events der MENA Region, das jedes Jahr höher im Kreis der internationalen A-List Festivals rangiert, zog einmal mehr eine strahlende Riege von internationalen Leinwand-Legenden, Shooting Stars und lokaler Prominenz sowie junge Talente in die marokkanische Metropole. Die vibriert in den zehn cineastischen Tagen vom großen Kino, das an vier zentralen Spielstätten gefeiert wird. Auf keinem anderen Festival ist das Publikum so jung, involviert und durchmischt.
Dass jener kulturelle Aspekt Festivals allen offen steht, scheint fast surreal angesichts des einschüchternden Luxus. Individuelle Shuttles chauffieren die Presse zu Veranstaltungen und Interviews in Palast-Hotels. Glamour ist hier buchstäblich greifbar für den Moment einer Gala, eines Publikumsgesprächs oder Screenings. Die Festival-Filmvorführungen sind kostenfrei. Während Cannes und Venedig ihre elitäre Exklusivität pflegen und die sich als „Publikumsfestival“ rühmende Berlinale keine erschwingliche Ermäßigung hinkriegt, minimiert Marrakesch reell finanzielle Hürden. Dank großzügiger Förderung durch König Mohammed VI, der das Festival aus cineastische Passion und zur Stärkung der regionalen Filmszene gründete, scheint Marrakesch losgelöst von den kommerziellen Kompromissen und Budget-Kürzungen anderer Festivals.
Belohnt wurde diese Unabhängigkeit und Offenheit mit einem neuen Zuschauerrekord von über 47.000 Besuchenden. Jene strömten besonders zu den Conversations. Die verbinden moderierte Gespräche mit Filmschaffenden mit Q&As. Zu den diesjährigen Highlights zählten Jodie Foster und Guillermo del Toro, die im Rahmen der Tributes für ihr Lebenswerk geehrt wurden. Dazu kamen Laurence Fishburn, Andrew Dominik und Bong Joon-ho, Präsident der schillernden Jury aus Celine Song, Anya Taylor-Joy, Hakim Belabbes, Julia Ducournau, Jenna Ortega und Payman Maadi. Ihre Preisvergabe unterstreicht die progressive Intention des Festivals, das auf kreative Experimentierfreude, künstlerischen Anspruch, und zeitkritische Themen setzt. Der Étoile d’Or, die höchste Auszeichnung, ging an Promised Sky.
Darin begleitet die tunesisch-französische Regisseurin Erige Sehiri den harschen Alltag einer ivorischer Migrantinnen in Tunis. Hauptdarstellerin Debora Lobe wurde als beste Schauspielerin ausgezeichnet, während der Preis für den besten Schauspieler an Ṣọpẹ́ Dìrísù für seine Leistung in Akinola Davies Jr.. oscar-nominiertem Drama My Father’s Shadow ging. Oscar Hudosn wurde Überraschungssieger in der Sparte beste Regie mit Straight Circle, der zudem eine besondere Erwähnung für die Hauptdarsteller-Zwillinge Luke und Elliott Tittensor abgriff. Der Jury Prize wurde gleich doppelt vergeben: An Jihan Ks beklemmende Doku My Father And Qaddafi sowie Vladlena Sandus experimentelle Memoire Memory. Der Wettbewerb bot einen in der internationalen Festival-Szenen seltenen Raum für Talente und Storys marginallisierter Communities und Stimmen des Global South.
Auffällig abwesend sind indes authentische Positionen von Menschen mit Disability sowie queere Perspektiven. Selbst Gus van Sants Eröffnungsfilm Dead Man‘s Wire behandelt keine queere Thematik. Bei der Conversation mit Jodie Foster wurde ihr spätes Coming Out und LGBTQIA+ Engagement ausgespart. Ähnlich irritierend wirkt der Hinweis auf einen Dresscode, der anders als üblich nicht klassistische Grenzen zementiert, sondern - wie Bereitsdas „nude dressing“-Verbot in Cannes - moralistische. Mit dem Unterschied, dass in Marrakesch schon Shorts oder freie Schultern zum Ausschluss von einer Veranstaltung führen können. Vergleichsweise harmlos wirkt angesichts solcher beunruhigender Parallelen die Debatte um AI. Dass Bong Joon Ho die Technologie gern mit einer Militäreinheit zerstören würde, klingt mehr nach einem neuen Plot-Entwurf als luddistischer Überzeugung.
Die Kernthemen des diesjährigen Programms, das Marrakeschs Stellenwert als globaler Treffpunkt etablierter und aufstrebender Talente festigte, wiesen auf fundamentalere Konflikte: Krieg, Migration, Entwurzelung und ökonomische Labilität spiegeln eine in der Festival-Szene nahezu omnipräsente Existenzangst. Vor diesem Hintergrund machen die starke Präsenz lokaler Newcomer und sozialstrukturelle Zugänglichkeit Marrakesch umso aktueller.
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