Sobald der Däne Lars von Trier einen Film veröffentlicht, scheint es so, als kämen ein paar besonders schlaue Spezis aus ihren Ecken gekrochen, mit dem Vorhaben wieder irgendwelche Anschuldigungen in seine Richtung abzufeuern. Egal ob Faschismus, Misogynie oder (immer wieder) der Vorwurf des Schocks als Selbstzweck. Oft auch alles zugleich. Es kommt fast schon einer reflexartigen Reaktion gleich, sobald kritische Köpfe den Namen des Dogma-Regisseurs hören oder lesen. Wobei man zugestehen muss, dass die Stimmen, nach dem exzessiv-graphischen Meisterstück „Antichrist“ und mit der Veröffentlichung von „Melancholia“ relativ ruhig wurden. Es gab wenige Angriffspunkte an diesem Werk, das von vornherein zeigt, wie die Welt untergeht und dann die letzten Momente im Leben einer Familie zeigt. Ganz ruhig und gelassen, aber tragisch.
„Nymphomaniac“ kam im Vergleich dazu natürlich mit einem Knall durch die Wand. Lars von Trier dreht also einen Porno. Die ersten Poster zeigten alle Schauspieler im Close-Up beim Orgasmus, im ersten Trailer wurden auch gleich ein Penis und eine Vagina im Detail eingeflochten. Dazu ertönt Rammstein-Musik. Lars von Trier lässt sich nicht lumpen und erzählt die Lebensgeschichte einer Nymphomanin. Auf acht Kapitel verteilt und über fünf Stunden hinweg breitet Joe (hervoragend: Charlotte Gainsbourg, „Antichrist“) ihr Leben vor Seligman (Stellan Skarsgard, „The Avengers“) aus und lässt ihn immer wieder seine Gedanken einbringen. Und hier offenbart sich auch die wahre Stärke dieses Filmes. Denn in diesen Szenen, in denen bloß gesprochen wird und von Trier diese ruhige aber spannende, weil intelligente Kraft entfacht, in diesen Szenen wird reflektiert und reflektiert und reflektiert.
Um all den Hassern, Verurteilern und Kurzschlusskritikern einmal vorzubeugen: „Nymphomaniac“ ist kein Film über Sex, sondern ein Film über Sexualität. Und das in einer ungezügelten Form, die es vorher so wohl noch nicht gab und vielleicht auch nicht mehr geben wird. Die Szenen in Volume 2 sind ebenso grafisch und explizit wie im ersten Teil des Films, manchmal gar extremerer Natur und dennoch verkommen sie niemals zum Selbstzweck. Sie erzählen stets die Geschichte weiter und sind ausnahmslos in das erzählerische Geschehen eingebunden. Neben den abstrusen Vorwürfen der Pornographie (Nacktheit ist nicht gleich Pornographie, liebe Leute) mussten sich der Film und damit auch der Regisseur immer wieder kritische Stimmen gefallen lassen, die den beiden extreme Frauenfeindlichkeit vorwarf. Und da sind wir wieder bei den allwöchentlichen blinden Krakehlern, die den Film offensichtlich nicht aufmerksam verfolgt haben.
Auch wenn Volume 2 in dieser Hinsicht den ersten Teil fortführt und die Nymphomanin Joe zeigt, wie sie hemmungslos unzählige Sexualpartner hat, wäre es ein Missverständnis, die Geschichte auf eine Frau, die ihrer Sexualität erliegt, zu reduzieren. Tatsächlich zeigt von Trier hier den Kampf einer Frau, die, obwohl ihr immer wieder Steine vor die Füße und an den Kopf geschmissen werden, nicht aufgibt. Die Sexualität ist hier viel mehr ein, wenn nicht gar der Teil, der die Menschheit eint. Sexualität ist größer als Glauben, Hoffnung, Hautfarbe, Nationalität. Größer als alles. In diesem Sinn, der vor allem in Vol.2 deutlich wird, ist „Nymphomaniac“ ein Film, der Joe die Sexualität in ihrer Gesamtheit zugesteht. Nicht als Gefängnis, nicht als Hindernis, nur als ehrliche Eigenschaft. Der Film nimmt damit eben so stark Abstand von all den Actionfilmen, der die weibliche Sexualität bloß als Belohnung für den Helden ansieht und die Frau zu einem Bückstück degradiert.
Relativ zum Anfang von Volume 2 macht von Trier deutlich, wieso Joe und Seligman ein so gutes Team sind; sie sind beinahe wie Yin und Yang. Sie lebt durch ihren Körper, er durch seine Gedanken. Er liest ununterbrochen und weiß nahezu alles und ergänzt Joes Erlebnisberichte immer wieder durch Metaphern, Theorien und kulturvierte Anmerkungen. Durch diese ruhigen Zwischenszenen wird der „Porno“ ganz schnell zu einem philosophischen, sozialkritischen und gesellschaftlich-relevanten Kommentar. Das wahre Wesen des Film ist nicht körperlich. Beeindruckend wie dieses Filmwerk an sich schon ist, es bekommt noch eine weitere Ebene hinzu, wenn von Trier seine Figuren benutzt um die Skandale und Eklats aus seinem wahren Leben zu reflektieren. Seligman besteht auf die politisch korrekte Bezeichnung der farbigen Bevölkerung und Joe schneidet sich einen Teil ihres Seins hinaus, den sie verabscheut. Cannes lässt grüßen. Ebenso wie der Film den Überlebenskampf einer Frau zeigt, ist er ein Kampf des Lars von Trier. Gewollt chronisch missverstanden, aber genial. „Nymphomaniac“ als Metapher für die Karriere eines Ausnahmefilmschaffenden.