Der Erzähler entblättert eine Geschichte. Der Zuhörer nimmt sich den Satzketten des Erzählers an, darf die Geschichte, egal ob sie nun der Wahrheit entspricht oder reine Fiktion darstellt, kritisieren, hinterfragen, geringschätzen, in sich aufnehmen, fühlen, erleben und lieben. Der Erzähler darf sich aussuchen, wo er seine Grenzen steckt, wie weit er bestimmte Dinge, ob es Eigenschaften oder Momente sind, ausführen möchte; an welcher Stelle er seine Erinnerungen eigenmächtig sabotiert, inwiefern er sich von seiner Intuition leiten lässt, wann die Phantasie mit ihm durchgehen darf – Seine Geschichte, seine Regeln, keine Regeln. Aber was ist eine Geschichte überhaupt? Ist es in Worte gehülltes Geschenk, welches man anderen Menschen in seiner Güte überreicht? Oder ist es ein Geschenk, das von Anfang nur für die eigene Person bestimmt ist. Vielleicht aber obsiegt in Wahrheit immer eine dritte Partei, die dem Erzählten bereits im Kopf der narrativen Instanz beiwohnen durfte und ebenso das Auf- und Wahrnehmen des Zuhörers von seiner Warte registrieren darf.
Und wer sich „Nymphomaniac – Vol. 1“ anschaut, der wird ganz schnell feststellen, dass sich der dänische Filmemacher ebenfalls genau diesen Fragen ausgesetzt hat: Wenn man sich dazu imstande fühlt, eine Geschichte zu erzählen, an wen ist sie dann in Wahrheit adressiert? Lars von Trier lässt die Antwort auf diese Frage so offen, wie er sie auch beantwortet – Für jede Person, die in der Lage dazu ist, zuzuhören und ebenso Klarheit darüber verschafft, dass es im filmischen Kosmos des Lars von Trier (und damit eben auch im Kopf der Erzählers, der seine Geschichte erzählen lässt, um sie aufnehmen und dabei zu sehen zu lassen, wie sie aufgenommen wird) keine Barrieren, keine Limits, keine Demarkationslinien existent scheinen: Es herrscht das Prinzip der Wahrheit, und dieses Prinzip fordert ein umfassendes Ausmaß schierer (Selbst-)Offenlegung ein. Charlotte Gainsbourg („Jacky im Königreich der Frauen“), die nicht nur Lars von Triers aufopferungsvolle Muse darstellt, sondern sich auch gleichermaßen in das Korsett seines Alter Ego schnüren lässt, ist mal wieder Dreh- und Angelpunkt.
Gainsbourg spielt Joe, eine Nymphomanin, dessen geschundenen Körper „Nymphomaniac – Vol. 1“ im brachialen E-Gitarren-Krawall und Schlagzeug-Gewitter Rammsteins gebiert, nachdem ihr motivisch naheliegendes „Führe mich“ die allumfassende Stille des im von sanften Schneekristallen berieselten Hinterhofs zerberstet. Der intellektuelle Seligman (Stellan Skargard, „Einer nach dem Anderen“) liefst die mit Wunden überzogene Joe auf, stellt ihr ein Bett zur Verfügung, erklärt sich bereit, ihrer (Passions-)Geschichte Kapitel für Kapitel zu folgen. „Nymphomaniac – Vol. 1“ geht auf das frühreife sexuelle Erwachen von Joe ein, auf ihre Erkenntnis, dass ihre Vagina auch als Köder fungiert und wie man sie, wie beim Fliegenfischen, zum systematischen Beutefang einsetzt. Seligman erweitert Joes Ausführungen durch kulturwissenschaftliche Exkursionen, sie will indes weder Mitleid noch Hilfe, sieht sich selber als schlechter Mensch, der immer mehr Erwartungen in das gleißende Licht des Sonnenuntergangs gesteckt hat. In ihren Gesprächen und Rückblicken, in denen Lars von Trier zwar nie die poetische Bildgewalt eines „Antichrist“ oder „Melancholia“ evoziert, wird frühzeitig seine Versiertheit in der Kreation einer genuin-assoziative Bildsprache deutlich.
Spielerisch wie nie gibt sich Lars von Trier in seiner charakteristischen Kunstfertigkeit zu erkennen, Metaphern, Allegorien und Analogien flattern und erstrecken sich da auch mal als Ziffern- und Bildeinschnitte über die eigentliche Szenerie, während Seligman eben versucht, Joes Selbsthass, ihre strenge Abkehr von der liebesfixierten Gesellschaft (für sie bedeutet Liebe immer Demütigung, weil sie mit der Zeit ausnahmslos in Unehrlichkeit versanden muss), bestmöglich zu intellektualisieren und verschiedenste Bezüge herzustellen. Im Austausch zwischen Joe und Seligman wächst eine platonische Wärme heran; eine, die unterhält, die amüsiert, die – so wie es in „Nymphomaniac – Vol. 1“ Usus ist – den immer wieder aufflackernden Hang zur Groteske zu einem Schlupfloch modelliert, durch das das existentielle Seelendrama quellen darf. Die Beobachtungen der Liebe, die Joe angestellt hat, analysiert Lars von Trier mit „Nymphomaniac – Vol. 1“ auf einer zutiefst menschlichen Ebene, um wiederholt preiszugeben, dass sich an jedweder Stelle ein doppelter Boden verbirgt.
Tonal, vom Komödiantischen, das grundsätzlich doch immer noch das Tragische verkündet, und formal, wenn das Thema Liebe nicht nur mit persönlichen Gefühlen codiert wird, sondern darüber hinaus auch immer noch als morphologische und musiktheoretische Studie anerkennt ist – Natürlich auch hier wieder mit einem Augenzwinkern, aber die Dialektik zwischen Subjektivität und Objektivität aufrechterhaltend. Aber wie sieht es nun eigentlich mit den Sexszenen aus? Erliegen sie wirklich nur dem voyeuristische Selbstzweck, dient der explizite Sex dem Zuschauer dazu, sich an den kopulierenden Körpern, der nackten Haut, den erigierten Genitalien zu ergötzen? Nein – und das muss man mit aller Entschiedenheit sagen. Der Sex, der „Nymphomaniac – Vol. 1“ praktiziert wird, ob im Zug, im Krankenhaus oder der Dachgeschosswohnung, soll nicht als Luststeigerung herhalten, er ist durchweg dramaturgisch konnotiert und Joes Beziehungen der verschiedenen Geschlechtsakte untereinander werden schlussendlich sogar in einer beinahe schon zeremoniellen Split-Screen-Sequenz dargebracht, deren Ausgangspunkt Seligmans Erläuterung von Johan Sebastian Bachs Polyphanie bedeutet.
Und obwohl Lars von Trier die Grammatik des Pornos aufbereitet, die Konventionen eines solchen stimuliert, liegt dem Film niemals der Anspruch einer pornographischen Syntax zugrunde – Es geht um den Menschen und sein Erleben, nicht um seine Ausschlachtung und Bloßstellung. Lars von Trier verehrt Joe aufrichtig, er verurteilt sie nicht. Er überlässt ihr eine autarke Entscheidungsfreiheit und zeigt anhand dieser Entscheidung auf, wie die Folgen, das Echo im Innerseelischen als auch im Bereich der soziologischen Interaktion aussieht respektive aussehen könnte. Und wenn man „Nymphomaniac – Vol. 1“ auf dem rechtmäßigen Niveau begegnen möchte, tut man es ihm als Zuschauer mit der entsprechenden Offenheit gleich.