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Hingeschaut: "No Country for Old Men" in der Filmanalyse

von Levin Günther

4. Einordnung des Films in das Western-Genre

    No Country For Old Men einem einzigen Genre klar zuzuordnen ist nicht einfach. Schließlich handelt es sich bei dem Film um ein herausragendes Beispiel für die Genrehybridisierung des postmodernen Kinos. Selbst von Beteiligten der Produktion wird der Film sehr vielfältig kategorisiert. Vorschläge reichen vom Western über den Kriminal- und Horrorfilm bis hin zum Film Noir und für jedes Beispiel gibt es ausreichend viele Beispiele, um die einzelnen Thesen zu untermauern. In diesem Kapitel möchte ich den Film jedoch deutlich als Spätwestern einordnen und einen Rückbezug auf Kapitel 2 erbringen.

    Einer der deutlichsten Aspekte und Bezüge auf das klassische Western-Genre ist das Setting des Films im Westen Texas’. Llewelyn Moss, Sheriff Bell und Anton Chigurh begegnen sich am frontier. Dies wird zwar schon in den ersten Einstellungen des Films als eingezäunt entlarvt, doch es birgt Weiten abseits der Zivilisation, in der Geheimnisse noch als solche existieren können (was sich daran zeigt, dass zum Beispiel der Schauplatz des Drogenhandels erst einige Zeit später von den Behörden entdeckt wird). Zudem bedienen sich die Coen-Brüder inhaltlich und stilistisch an Western damaligen Ära. Dennoch nutzen sie solche Aspekte zumeist in leicht veränderten und manipulierten Formen. Pferde, die in klassischen Western zum grundsätzlichen Repertoire und Besitz eines jeden Menschen gehörten, sind hier nur vereinzelt zu sehen; sie wurden von Autos ersetzt. Besonders deutlich wird dies in mehreren Szenen. In einer warnt Bell seinen Deputy, der das Pferd seiner Frau reiten will, dass er bloß vorsichtig sein soll. Das Reiten zu Pferde wird hier seiner ursprünglich heroischen und männlichen Romantik entledigt.

    Ein weiteres klassisches Merkmal eines jeden Western ist das finale Duell, der sogenannte „Shootout“. In No Country For Old Men ist ein solcher finaler Konflikt nicht vorhanden. Zwar geht Bell in das Motelzimmer, in dem Chigurh eigentlich warten müsste (und als er die Tür aufmacht, sieht sein Schatten an der Wand wie der eines Revolverheldes aus), doch Chigurh ist nicht da. Das Duell bleibt aus, Bell muss sich nicht ein letztes Mal beweisen und er ist erleichtert. Auch in dieser Hinsicht weicht der Film deutlich von gängigen Standardsituationen des Western ab. Denn der Sheriff Bell, dessen Kodex deutlich dem des klassischen Westerners entspricht (wie in Kapitel 2 ausgeführt), ist eine Figur, die klar dem Spätwestern zuzuordnen ist. Er ist alt geworden, pessimistisch, sehnt sich die alten Zeiten zurück und bleibt stets ein passiver Charakter, der nur reagiert. Jedoch wird Bell im Film nicht von seiner Vergangenheit eingeholt, sondern von der Gegenwart überholt.

    Wichtige Nebenfiguren in klassischen Western, wie der Bösewicht oder die Frauenrollen der Heiligen und der Hure, sind auch in No Country For Old Men zu finden, obgleich sie leicht verändert wurden. Der Bösewicht des  klassischen Western zeichnet sich dadurch aus, dass er mit seinen Opfern spielt, was Chigurh genüsslich mittels einer geworfenen Münze, die über Leben und Tod entscheidet, tut. Zudem erinnert er insofern an klassische Western-Bösewichte, dass er seinen Opfern deutlich macht, dass ihr „ganzes Leben wertlos war“. Dies tut er, indem er die Prinzipien seiner Opfer in Frage stellt. Interessant ist, dass die Coen-Brüder das Frauenbild klassischer Western, modernisiert haben. Die Heilige ist hier nicht nur Sheriff Bells Frau, die vor allem durch ihr Aussehen in die Rolle passt, sondern auch Carla Jean, die sich dem Bösen nicht beugt und Moss stets unterstützt, ohne dabei autonome Züge zu verlieren. Eine Frau, die auf die Beschreibung der Hure zutrifft, gibt es nicht. Und hier ist es auch nicht in irgendeiner Weise ehrenwerter, ein Mann zu sein. Denn wie brüchig Ehre sein kann, das zeigen die Coen-Brüder in aller Deutlichkeit.

5. Fazit

    No Country For Old Men ist ein Film, der ein klares Beispiel für die Genrehybridisierung ist und der sich den Wurzeln des klassischen Western-Genres zu jeder Sekunde bewusst ist. Dennoch lässt er sich deutlich als moderner Spätwestern kategorisieren. Hierbei passen vor allem die pessimistische Grundstimmung des Films und die Tatsache, dass der Held des Films ein alter, machtloser und überforderter Mann ist, der stets nur reagiert, aber das Herz am rechten Fleck hat. Auch wenn die Regisseure Joel und Ethan Coen mit ihren Film viele Elemente des klassischen Western verwenden, kehren die meisten Merkmale in einer neuen Gestalt wieder, die sich oft mit solchen anderer Genres vermischen. Vielleicht führt diese Ambivalenz und Leichtigkeit im Umgang mit gängigen Regeln und Konventionen dazu, dass der Film auch nach wiederholtem Sehen kein Stück seiner Qualität verliert. Vielleicht macht genau das No Country For Old Men zu einem so intelligenten Vertreter des Western-Genres.


Literaturquellen:
Grob, Norbert. Kiefer, Bernd (Hrsg.): Reclam Filmgenres: Western. Stuttgart 2003.
King, Lynnea Chapman. Wallach, Rick. Welsh, Joe (Hrsg.): No Country For Old Men - From Novel to Film. Plymouth 2009.
Maintz, Christian: Fachunterlagen. FFHHWS2015.
Müller, Jürgen (Hrsg.): Filme der 2000er. Köln 2011.

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