Inhalt
Karl, ein 70-jähriger österreichischer Astronom, steht in seinem Leben und seiner Arbeit an einem Scheideweg. Nach einer Konferenz in Griechenland beschliesst er, nicht nach Hause zu fahren, und begibt sich auf eine kleine Insel, in der Hoffnung, Nächte vorzufinden, die dunkel genug sind, um die Sterne sehen zu können. Dort verlangsamt sich die Zeit.
Kritik
Die Leute kümmern sich nicht um die Sterne, weil sie sie nicht sehen, sagt der Hauptcharakter Jem Cohens (Counting) experimentellen Essays einmal beiläufig. Der 70-jährige Österreichische Astronom ist ironischerweise der Gegenbeleg seiner Bemerkung. Die Sterne beschäftigen ihn schon sein ganzes Leben lang. Aber auch er sieht sie nicht - jedenfalls nicht ohne technische Hilfsmittel. Lichtverschmutzung macht es unmöglich, die Himmelskörper bei Nacht zu erkennen. Solche Überschneidungen des Persönlichen und Politischen, Pragmatischen und Philosophischen sind typisch für die observativen Arbeiten des Regisseurs.
Sein jüngstes Werk, das im Rahmen von Visions du Réel seine internationale Premiere feiert, scheint eine überraschende Wahl für ein Dokumentarfilm-Festival. Die in naturalistischen Einstellungen im persönlichen Umfeld an Originalschauplätzen gefilmte Handlung ist weniger eine Meditation über ökologische, astronomische und existenzielle Themen als über das undurchsichtige Verhältnis von Realität und Fiktion. Bekannte des Regisseurs wie die Filmemacherinnen Jessica Sarah Rinland und Leslie Thornton übernehmen die Rollen von Karls Kollegin Sarah und seiner Frau Eleanor.
Beider fließender Dialog-Vortrag, der großteils einen Briefaustausch zwischen Karl und Eleanor wiedergeben, steht in kuriosem Kontrast zu Karls unsicherer Aufsagen seiner Sätze. Sind es seine eigenen Gedanken? Hat er sie niedergeschrieben? Hat Cohen sie ihm vorgegeben? Ist Karl überhaupt ein Astronom? Steckt er in einer ähnlichen Sinnkrise wie sein vermeintliches Leinwand-Alter-Ego? Für das Kinopublikum sind die Antworten darauf aus dem filmischen Geschehen nicht ersichtlich. Irgendwie ist auch das eine Kontemplation über das Unsichtbare, allerdings eine sehr abstrakte.
Fazit
Ein Doku-Drama über einen gealterten Astronomen, dessen berufliche Perspektive die dramatische Zunahme von Lichtverschmutzung ebenso verwischt wie seine Sicht auf den Nachthimmel. Eine doppelbödige Dekonstruktion dokumentarischer Wahrhaftigkeit, die das Publikum zum beständigen Hinterfragen des Gesehenen auffordert. Diese zwei durch allegorische Assoziation verknüpften Konstrukte verschachtelt Jem Cohen zu einer schemenhaften kinematischen Reflexion über das, was mit bloßem Auge erkennbar ist. Auf der Leinwand entfaltet sich diese intellektuelle Fingerübung noch abstrakter und überkonstruierter, als sie sich anhört. Diese unnötige Verkomplizierung versperrt die Sicht auf die spannenden Themen.
Autor: Lida Bach