Inhalt
Boca Chica, Texas. Zwischen dem Golf von Mexiko und dem Rio Grande bestimmt das Rauschen der Wellen den Rhythmus des dörflichen Lebens. Doch befindet sich dieser wilde Landstrich mitten in einem unumkehrbaren Wandel. Die Sümpfe wurden trockengelegt, die Strände geschlossen und die Häuser aufgekauft: Über den Strand ragt drohend der Schatten einer Rakete, fünfzig Stockwerke hoch, die für ihren Flug ins All startklar gemacht wird.
Kritik
Auf Film-Festivals kommt es genauso wie in der breiten Medienlandschaft bisweilen zu bizarren inhaltliche oder motivischen Parallelen, die eine Problematik abrupt in den Fokus rücken. Ein Beispiel dafür ist Julien Elies (Dark Suns) dokumentarischen Kontemplation über superreiche Technokraten, die nach den Sternen greifen, und die Mehrheit der Menschen, die sie aufgrund von Lichtverschmutzung nicht mehr sehen kann. Das puzzelartige Palimpsest, das bei Visions du Réel seine Premiere feiert, berührt auch die Überbeleuchtung des Nachthimmels durch Urbanisierung und Technisierung.
Mit diesem Thema befasst sich auch Jem Cohens ebenfalls im Wettbewerb des renommierten Dokumentarfilm-Festivals laufende Little, Big, and Far. Doch in Elies fragmentarischem Exposé ist diese zugleich allgegenwärtige und dennoch paradox missachtete Umweltbeeinträchtigung nur eine der folgenschweren Auswirkungen technokratischer Monopolisierung. Deren megalomanisches Machtstreben sieht im Weltall ein unendliches Potenzial für ungezügelte Expansion. Ferne Planeten werden zu buchstäblichen Projektionsflächen neo-liberalen Kolonialismus, die mehr Schreckensszenario sind als Utopie. Dazu gehört Elon Musks Mars-Besiedelung, die auf SpaceX vorbereitet wird.
Der Raketenstart zum Mars scheint noch in weiter Ferne, doch das Projekt hat bereits fundamentale Auswirkungen auf die Flora, Fauna und Anwohnenden in Boca Chica, Texas. Der verschlafene Fischer-Ort zwischen dem Rio Grande und Golf von Mexiko wird zum Schauplatz fundamentalen Wandels, der Mensch und Natur aus dem Gleichgewicht wirft. In surrealen Schwarz-Weiß-Bildern, die der irdischen Topographie eine seltsam unwirkliche Aura verleihen, erfasst die Kamera dieses anderweltliche Areal futuristischer Fiktionen. Das Terrain wandelt sich in einem Prisma verschiedener Perspektiven.
Fazit
Eine Astrophysikerin, deren Studium von Asteroiden Weltraumschrott und Satelliten beeinträchtigen. Lokale Fischer, mit deren Fang auch ihre Lebensgrundlage langsam verschwindet. Space-Heads und Astro-Enthusiasten, die auf Klappstühlen dem großen Moment entgegenfiebern. Ein Biologe, der sich um die seltenen Vogelarten im angrenzenden Naturschutzgebiet sorgt, nachdem die Regierung nun auch Musks Mars-Mission unterstützt. In Gespräche mit seinen charismatischen Protagonist*innen beleuchtet Julien Elie die problematischen Facetten und ungebrochene Faszination eines imperialistischen Privat-Projekts, dass die alte Welt versehrt, bevor eine neue überhaupt erreicht ist.
Autor: Lida Bach