Das Hotelzimmer, in dem das Interview stattfindet, wirkt ein wenig, als könne es selbst Schauplatz einer Filmszene sein. Schlichte Formen, dunkle Möbel, gedämpftes Licht. Berliner Herbstregen trommelt gegen die Fensterscheiben. »Ich weiß noch, wie du warst im vergangenen Herbst«, hat Neruda selbst einmal passend geschrieben. Den typischen Singsang, mit dem er seine Gedichte vortrug, haben wir im Raum alle im Ohr, schließlich haben wir ihn erst wenige Stunden zuvor von der Leinwand gehört.
Jetzt warten wir zu dritt auf Pablo Larraín und Gael García Bernal, jede von uns für ein anderes Medium, aber alle voller Fragen. Gruppeninterviews sind oft eine schwierige Sache, jeder will an die Reihe kommen, die eigenen Fragen durchbringen. Doch als Larraín und Bernal schließlich eintreten und bei uns Platz nehmen, verfliegt jede Anspannung im Nu. Wir reden über Berlin, das Tempelhofer Feld und geliehene Fahrräder – und dann über Neruda. Die Augen der beiden Filmemacher leuchten. Sie haben deutlich Freude daran, über ihr Projekt zu sprechen – mit uns und auch miteinander. Was folgt, ist entsprechend weniger Interview als vielmehr lebhafte Gesprächsrunde.
Glückwunsch zu diesem Film. Wie bist du auf diese Idee gekommen – und auf den Storyaufbau mit der Figur des Polizisten?
Larraín: Angefangen hat es als ein eher konventionelles Biopic – und dann wurde es langsam literarischer. Dazu hat vor allem Drehbuchautor Guillermo Calderón beigetragen, der ein Schriftsteller ist. Und irgendwann ging uns auf, dass es uns eher um einen nerudaartigen Film ging als um einen Film über Neruda. Mehr um seinen Kosmos, seine Welt – und da kommt Gaels Figur ins Spiel.
Aus seiner Perspektive konnten wir die Geschichte heiterer und verspielter erzählen, und wir konnten daraus auch irgendwie einen Film über Filme machen. Das war ein jahrelanger Prozess, es ist nicht so, dass wir die Story von jetzt auf gleich erarbeitet hätten. Aber wir fanden heraus, dass man nicht wirklich einen Film über Neruda drehen kann. Man kann kein Biopic über ihn machen. Man kann ihn in keine Schublade stopfen. Man kann sich nicht hinstellen und sagen: »Das war Neruda.« Und deshalb lösen wir das eben etwas verspielter, freier. Darum nennen wir es auch eher ein »Anti-Biopic«.
Es gibt eine Szene, in der jemand sagt »Neruda liebt Sex, Verbrechen und Gewalt …«
Larraín: Ja, aber die Figur bezieht sich da auf die Kriminalromane – es ist seine Frau Delia, die das sagt.
Bernal: Sex, Verbrechen und Gewalt?
Das steht zumindest in den deutschen Untertiteln …
Bernal: Oh.
Larraín: Sie spricht über Neruda. Vor ihm.
Bernal: Ah, okay.
Larraín: Es gibt diesen Moment, in dem Neruda seinen Assistenten bittet, ihm mehr Bücher eines bestimmten Labels zu besorgen – Krimis. Und dann sagt Delia zu jemand anders, dass Neruda all das mag, was in diesen Büchern steckt. Es heißt also nicht, dass er Verbrechen an sich mag.
Bernal: Aber ja, er war ein großer Fan von Kriminalromanen, er las sie sehr gerne. Das trifft auf viele Leute zu, von denen man das nie erwarten würde. Wer denkt schon, dass Neruda Krimis liebte und in einem Rutsch durchlas?
Larraín: Genau, und wer würde erwarten, dass der Herausgeber Jorge Luis Borges war? Zusammen mit Bioy Casares. Sie standen hinter Séptimo Círculo (»der siebte Kreis«), das ist der Name der Reihe, in der all diese Krimis erschienen, die Neruda gern las. Das hat also sehr viel mit Borges zu tun.
Hat dieser Film die Art verändert, wie ihr Neruda wahrnehmt?
Bernal: Für mich – absolut. Ich hatte kein genaues Bild von ihm, ich hatte mich sehr wenig mit Neruda befasst. Zuletzt hatte ich ihn zu Schulzeiten gelesen – und danach auch nicht mehr. Es war halt Schule – wir haben uns ein paar Monate lang nur Neruda gewidmet. Ich habe also seine Gedichte gelesen, analysiert und mich dann nie wieder damit beschäftigt. Entsprechend gab es eine Menge Dinge, die ich nicht wusste. Mir war die ganze Kraft, das Ausmaß seiner Poesie nicht bewusst.
Das ist übrigens etwas, das ich immer erwähne. Vielleicht ist es auch merkwürdig oder naiv, aber wenn ich gefragt werde, was mich an ihm am meisten beeindruckt, sage ich immer: Abgesehen von seinem Werk und der unfassbaren Fülle … Es ist die Größe seiner Persönlichkeit. Seine Fähigkeit, gut zu kochen, viel zu reisen, viele Sprachen zu sprechen, viele Freunde zu haben, dies und das und jenes zu genießen, viele Dinge auf einmal zu tun, Gedichte zu schreiben – von einem höchst feierlichen Gedicht über einen Tisch bis hin zu einem Gedicht für einen Präsidentschaftskandidaten. So etwas.
Kürzlich haben wir den Film in Mexiko beim Morelia Film Festival gezeigt. Das passte gut, denn Neruda hat ein paar Jahre in Michoacán und genau in Morelia gelebt. Da hat er auch seinen ersten Doktortitel bekommen, eine Ehrendoktorwürde.
Larraín: Ach, wirklich? Das wusste ich nicht!
Bernal: Ja. Und zu jedem Anlass schrieb er ein Gedicht, um etwas auszudrücken. Einmal luden sie ihn ein, ein ganz kleines Theater zu eröffnen, und er schrieb dafür ein wunderschönes Gedicht. Er gehörte zu den Leuten, die sagen: »Heute Abend ist Premiere, lasst uns ein Gedicht schreiben!« Aber so war das auch einfach zu dieser Zeit …
Larraín: Es gab diese Leute, die alles absorbierten, sich von allem verändern ließen und selbst andere verändern wollten. Versteht ihr? Sie wollten die Ideologie durch ihr Werk verändern. Aber es war nicht so, dass sie einer Ideologie im Speziellen anhingen. Sie wollten die Welt um sich herum moderner gestalten.
Wir haben den Vorteil, dass wir wissen, was hinterher geschah. Wir wissen zum Beispiel, was in meinem Land passierte, in Brasilien, in Mexiko … gerade erst in den USA [Anmerkung: Er bezieht sich vermutlich auf die Wahl Trumps]. Wir haben den Vorteil der Zeit. Und wir haben im Prinzip einen historischen Film gedreht, der ebenso sehr von Neruda handelt wie von solchen Leuten, wie sie Gael beschrieben hat. Poeten wie Cortázar, Octavio Paz, ihr wisst schon – der lateinamerikanische Boom, der vor allem in der Literatur stattfand. Und man muss eben wissen, dass man die alle nicht einfach nehmen und in einen Film packen kann.
Ist Neruda in Lateinamerika nicht etwa das, was Goethe für Deutschland ist?
Larraín: Möglich. Aber das ist schwer zu vergleichen.
Interessant ist ja auch, dass zu Nerudas Zeit ein Dichter solchen Einfluss in der Politik nehmen konnte. Mit wem könnte man das heute schon noch vergleichen?
Larraín: Leute wie Neruda kombinierten Poesie und Politik. Und wie Gael schon sagte – es kam auch vor, dass Neruda Briefe gegen irgendeinen Präsidentschaftskandidaten schrieb. Oder gegen den Präsidenten selbst. Ich meine, er hat den chilenischen Präsidenten damals echt verärgert. Wenn heute ein Dichter hingeht und ein Gedicht gegen Trump schreibt, oder gegen Angela Merkel – das interessiert doch niemanden.
Bernal: Die einzige Person, die mir da spontan einfällt, ist Alain Badiou in Frankreich, der Philosoph.
Larraín: Aber das ist etwas anderes.
Bernal: Es gibt keine direkte Verbindung zur Politik. Aber wenn es wirklich schlecht läuft, gucken die Leute immer auf Alain Badiou, als ob sie fragen wollen: »Was machen wir denn jetzt?« Und ihm fällt dann etwas ein. Man muss allerdings schon sehr genau nachdenken … Das war jedenfalls eine der Fragen, die während des Drehs sehr oft aufkamen. Wir haben das auch sehr herausgestellt, weil es einfach so ein Kontrast ist. Früher musstest du berühmt sein, um in die Politik gehen zu können. Nach dem Zweiten Weltkrieg musstest du qualifiziert sein. Heutzutage hingegen …
(Alle lachen.)
Bernal: Jetzt ist das ein Motiv in den Wahlkampagnen, zu sagen: »Ich bin nicht qualifiziert. Wählt mich.« Und ja … Die Leute geben ihre Stimme auch Personen, die nicht qualifiziert sind.