6.6

MB-Kritik

Alpen 2011

Drama – Greece

6.6

Angeliki Papoulia
Aris Servetalis
Johnny Vekris
Ariane Labed
Sofia Aivathiadou
Efstathia Angeli
Ilias Antzoulatos
Giorgos Athanasopoulos
Tasos Bahouros
Dimitris Bosinakos
Niki Diagoupi
Giorgos Diamantis
Efthymis Filippou
Labros Filippou
Dimitris Fryliggos
Despoina Fryliggou

Inhalt

Menschen begründen mit ihrer Agentur ein ganz besonderes Geschäft: Sie helfen trauernden Menschen, über den Tod des Angehörigen hinwegzukommen, indem sie als die Verstorbenen posieren. Dabei folgen die vier, die sich nach Bergen benennen strikten Regeln, die eine emotionale Verwicklung mit ihren Kunden verhindern sollen. Es kommt, wie es kommt: Nicht jeder hält sich daran. Das hat Konsequenzen…

Kritik

Mittlerweile ist der griechische Filmemacher Yorgos Lanthimos (The Lobster) eine feste Konstante im internationalen Filmgeschäft, noch vor wenigen Jahren mischte er jedoch die Kinolandschaft seines Heimatlandes gehörig auf. Als Mitbegründer der Greek Weird Wave ist er seinen eigenen Idealen dabei stets treu geblieben und so lassen sich auch in Alpen bereits alle essentiellen Markenzeichen seiner Autorenschaft wiederfinden. Lanthimos operiert mit geringen Verschiebungen, mit einem verschrobenen Abbild unserer Wirklichkeit. Stets gleichen seine Werke dabei Versuchsanordnungen, einem gedanklichen Konstrukt, welches darauf abzielt unsere genormten Vorstellungen von Gesellschaft, zwischenmenschlichen Beziehungen und Kommunikation in Frage zu stellen. Unterkühlt und klinisch fühlen diese sich an, provokant und skurril. Lanthimos ruft eine Vielzahl widersprüchlicher Reaktionen hervor, nur so unbeteiligt, wie seine Figuren meist agieren, lässt er seine Zuschauer wohl nie zurück.

Zunächst könnte man meinen der Titel des Films spielt auf die Kälte und Distanziertheit an, von welcher dieser nahezu durchgehend durchtränkt ist. Tatsächlich hat die Referenz auf das höchste Gebirge Europas aber auch eine inhaltliche Bewandtnis. Alpen lautet der Name einer Gruppierung vierer Menschen, die ausgehend von einer abstrusen Rollenspielidee die Position verstorbener Menschen einnehmen, um Trauernde bei ihrem Verlust zu unterstützten. Ungesagte Worte, überfällige Aussprachen oder schlichtweg ein verzweifeltes Klammern an die Vergangenheit – die Möglichkeiten sind groß. Ihren Beweggründen kommt Lanthimos nur schleichend auf die Spur. Die ersten vier Sitzungen sind kostenfrei, heißt es einmal – also spielt Geld eine Rolle. Wohl nur eine untergeordnete, betrachtet man die Leidenschaft und Hingabe, welche die Gruppe in ihre Profession investiert. Ihre Regeln sind strikt, gefordert wird absoluter Einsatz und verboten ist jegliche Form von emotionaler Bindung.

Alpen ist dabei mehr als Skurrilität und Wahnsinn. Beklemmend erzählt, folgt das Werk einem klaren Konzept. Präzise arbeitet Lanthimos mit der Natürlichkeit von zwischenmenschlichen Begegnungen, untergräbt diese jedoch und verunsichert den Zuschauer durch die Entfremdung bekannter Situationen. Einmal mehr wird Sex abseits jedweder Erotik und Liebe porträtiert, als reiner Akt, losgelöst von seiner Bedeutung. Soziale Interaktionen verkommen zu konstanten Verhandlungen, Taten werden zu Dienstleistungen. Vor allem Sprache wird maximal distanziert betrachtet und wirkt dabei alles andere als inhärent. Immer wieder sind große Teile des Bildes getrübt, von Unschärfe überzogen. Ein Sinnbild für den diffusen Zustand einer Welt, in der alles kalkuliert ist und es nur wenig bis gar keinen Platz für das Echte zu geben scheint.

In zweierlei Hinsicht geht es Alpen um Familie. Die natürliche und die gewählte, bis zu einem gewissen Punkt auch die Überschneidung beider Welten. In sich geschlossen, treten die nach einzelnen Bergen benannten Mitglieder der Organisation Alpen auch in das Leben anderer Menschen ein, besetzten einen Platz, welcher nicht der ihre ist. Was dahinter schlummert ist der Gedanke einer konstanten Austauschbarkeit. Menschen sind ersetzbar, oder noch genauer: Menschen, die gestorben sind, müssen ersetzt werden. Definiert sind diese dabei vor allem durch äußerliche Charakteristiken, eine Idee, welche Lanthimos bei The Lobster später abermals aufgreifen sollte. Damit unterstellt Alpen seinen Figuren eine alles durchdringende Oberflächlichkeit und stellt die Frage in den Raum, was für einen Menschen in der modernen Welt überhaupt noch von Bedeutung ist.

Natürlich ist die Prämisse des Films über die Maße konstruiert. Hollywood hätte daraus wohl einen oberflächlichen Psychothriller gemacht, angereichert mit jeder Menge Twists und erklärenden Dialogen. Lanthimos verzichtet darauf. Seinen Film gilt es nach und nach zu entschlüsseln, einem Puzzle gleich fügt jede Szene dem Gesamtbild einen weiteren Aspekt hinzu. Er führt und lenkt, Marionetten gleich scheucht er die leblosen Figuren über die Bühne seines Films. Er behält die Kontrolle, auch wenn alle Konflikte eskalieren. Vielleicht ist es diese Kühnheit, das Berechnende und Kontrollierte, was uns an seinen Werken gleichzeitig begeistert und verstört. Denn auch wenn seine eisigen Bilder sich nicht jedem Zuschauer auf die gleiche Weiße erschließen, so inszeniert er dennoch ungeheuer präzise und bedacht. Der Operationssaal ist vorbereitet und die Gesellschaft nimmt Platz. Zentimeter um Zentimeter setzt Lanthimos das Skalpell an, die Schnitte so fein, dass man sie mit bloßem Auge kaum erkennt – bis der Patient letztlich blutüberströmt zusammenbricht.

Fazit

Einmal mehr bricht Yorgos Lanthimos mit den Konventionen unserer Gesellschaft. Die eisigkalten, oftmals verschwommenen Bilder spiegeln das Abbild einer Welt wider, in der Gefühle und Beziehungen jederzeit ersetzbar sind. Bitterböse und herrlich diffus beschäftigt sich Alpen mit sozialen Konstrukten und dem Konzept Familie. Was er dabei zutage fördert wird nicht jedem Zuschauer behagen, fußt jedoch auf einem wahren Fundament.

Autor: Dominic Hochholzer
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