Inhalt
Nach einem Zwischenfall in ihrer Privatschule nähern sich der extrovertierte Wei, einziger Sohn einer wohlsituierten chinesischen Familie, und Shuo, sein ruhiger, intelligenter Klassenkamerad, einander an. Eine geheimnisvolle Energie scheint die beiden miteinander zu verbinden und ins Leben des anderen hineinzuziehen. Bald stellt Wei seinen neuen Freund seinem Vater, einem Zellbiologen, und seiner Mutter, einer ehemaligen Flugbegleiterin, vor. Als die Eltern erfahren, dass Shuo aus schwierigen Verhältnissen kommt, ermutigen sie den Jungen mit dem rätselhaften Charisma, mehr Zeit bei ihnen zu verbringen.
Kritik
Wie die Zellen, die einer der vier Charaktere Jianjie Lins doppelbödigen Familiendramas unter dem Mikroskop betrachtet, studiert der Regisseur mit ruhiger Konzentration die psychologische Konstellation vor der Kamera. Deren in sterilen Grau- und Blautönen glänzenden Bilder lassen durch die nüchterne Fassade langsam eine Ahnung lautloser Bedrohung sickern. Eine beständig wachsendes Unbehagen, dessen unklare Ursache es noch stärker macht, untergräbt die trügerische Eintracht der fragilen Ersatz-Familie, die sich aus der flüchtigen Kameradschaft der jungen Hauptfiguren entwickelt.
Der schleichende Verdacht, dass die Rollen in der scheinbar symbiotischen Gemeinschaft anders verteilt sind, gibt der geschliffenen Story Nuancen von Parasiet und Saltburn, ohne deren Motive zu überschatten. Deren markantestes ist der Wunsch nach einer alternativen Wirklichkeit, in der alte Wunden nie entstanden sind. Der Versuch, einen Unfall wiedergutzumachen initiiert die ambivalente Freundschaft zwischen Shuo (Xilun Sun) und Wei (Lin Muran), dessen wohlhabende Eltern den stillen Schulkameraden ihres Sohnes immer enger in ihre Familie einbinden.
Mit überlegten Gesten und enthüllten Verletzungen gewinnt Shuo Weis Mutter (Guo Keyu), die in ihm ihr während der Ein-Kind-Ära abgetriebenes Kind sieht, und dessen über die schlechten Schulleistungen seines Sohnes frustrierten Vater (Zu Feng, League of Gods) für sich. Wei, der erst von der veränderten Atmosphäre daheim zu profitieren schien, kommen Zweifel an Shuos Berichten von seinem gewalttätigen Alkoholiker-Vater. Doch was sich unter der Fassade elterlicher Fürsorglichkeit abzeichnet ist persönlicher und pathologischer als die sozialpsychologischen Narben eines invasiven Staatssystems.
Fazit
Mit den dichten Stilmitteln von Psychothriller und Mystery unterstreicht Jianjie Lins eindrucksvolles Spielfilm-Debüt die tiefsitzenden Traumata einer Familie, deren äußerer Wohlstand emotionale Verkümmerung tarnt. Schwelende Konflikte dringen in trivialen Gewohnheiten an eine gesellschaftliche Oberfläche, die Autorität und Anpassung über individuelle Befindlichkeiten stellt. Präzise Darstellende und latente Figurendynamik steigern einander in der mehrdeutigen Inszenierung. Deren distanzierte Dramatik wird zur Analogie der emotionalen Entfremdung innerhalb eines moribunden Mikrokosmos, dessen soziopathische Schattierungen ein verzweifeltes Bedürfnis nach Nähe kompensieren.
Autor: Lida Bach