Inhalt
Chile, 11. September 1973. Hunderttausende protestieren auf den Straßen Santiagos gegen General Pinochet, der sich gegen den Präsidenten Salvador Allende an die Macht putscht. Unter den Demonstranten sind auch Lena (Emma Watson), die als Stewardess am Tag zuvor in Chile gelandet ist, und ihr Freund Daniel (Daniel Brühl), der als Fotograf in Santiago lebt. Unzählige werden in den Wirren des Aufruhrs vom Geheimdienst verhaftet, so auch Daniel und Lena. Daniel wird noch in der Nacht an einen unbekannten Ort verschleppt.
Nach dem ersten Schock versucht Lena herauszufinden, was mit Daniel passiert ist. Doch die Mitstreiter seiner Studentengruppe tauchen unter und auch die Deutsche Botschaft verweigert ihr jede Hilfe. Bei Amnesty International hört sie das erste Mal von der berüchtigten Colonia Dignidad, einer abgeschotteten deutschen Sekte im Süden Chiles, die enge Verbindungen zum Geheimdienst unterhält: Es geht das Gerücht um, dass auf dem Gelände der Colonia Gefangene gefoltert werden – und Daniel vermutlich dort gefangen gehalten wird.
Kritik
Chile 1973: Daniel (Daniel Brühl, »Inglorious Basterds«), ein junger deutscher Fotograf, unterstützt Allendes Arbeiterpartei mit Bildern und Plakaten — ein Engagement, mit dem seine Freundin Lena (Emma Watson, »Vielleicht lieber morgen«), als Stewardess ohnehin nur sporadisch in Santiago, ohnehin nicht sehr glücklich ist. Doch dann kommt der 11. September und mit ihm Pinochets Putsch. Vor Lenas Augen wird Daniel festgenommen und verschleppt. Ihre Nachforschungen führen Lena zur mysteriösen Colonia Dignidad — einer Art Lager 300 Kilometer südlich Santiagos, begründet von dem deutschen Laienprediger Paul Schäfer (Michael Nyqvist, »Verblendung«) und hermetisch abgeriegelt. Um Daniel zu finden und zu retten, sieht Lena nur eine einzige Möglichkeit: Sie muss sich in die Colonia einschleusen. Ein Spiel mit dem Feuer, denn einmal dort angekommen, gibt es nach den offiziellen Regeln kein Zurück mehr.
Die Colonia Dignidad (wörtlich: »Kolonie Würde«) hat es tatsächlich gegeben. Diese stumme Tatsache schwebt über der Filmhandlung wie ein Schatten. Das Prädikat »Nach einer wahren Begebenheit« ist manchem Film ja eher Stolperdraht als Tritthilfe, hier sorgt es im richtigen Maße für Beklommenheit, denn »Colonia Dignidad« ist sorgsam recherchiert, »bis hin zu einzelnen Dialogen Paul Schäfers«, wie Regisseur Florian Gallenberger erzählt. Und so zieht der Thriller seine Wirkung weniger aus der Darstellung expliziter Gewalt, sondern den Alltagsstrukturen einer Sekte im Nirgendwo, dem sozialen Druck, den Intrigen, dem Gefühl vollkommener Auswegslosigkeit. Denn der Alltag in der Colonia Dignidad ist geprägt von strengen Regeln, harter Arbeit, Gewalt, Entbehrung, Manipulation und Demütigung. Männer, Frauen und Kinder leben getrennt, Liebesbeziehungen sind so gut wie unmöglich, Widerstand wird durch Drogen gebrochen. Dass Kinder der sexuellen Willkür Schäfers ausgesetzt sind, wird in beklemmenden Bildern angedeutet.
Dabei lebt der Film auch besonders von der Leistung seiner Darsteller. Daniel Brühl überzeugt als idealistischer Fotograf aus Leidenschaft, der innerhalb seiner Rolle noch eine weitere spielt und alles daran setzt, einen Ausweg aus dem Lager zu finden. Emma Watson spielt die entschlossene Lena, die an den Strukturen der Colonia wachsen muss, wenn sie nicht an ihnen zerbrechen will. Und Michael Nyqvist versieht seine Darstellung des Paul Schäfer mit Charisma und einem Hauch von feinem Fanatismus, die nicht nur für Gänsehaut sorgen, sondern auch erahnen lassen, wie Schäfer zahlreiche Menschen in seinen Bann schlagen und in seine Abhängigkeit bringen konnte. In der Maske wurde zudem alles getan, um Nyqvists Optik dem historischen Paul Schäfer weitestmöglich anzugleichen — Bilder im Abspann zeigen, wie sehr das tatsächlich gelungen ist.
Recht linear folgt die Filmhandlung zunächst vor allem Lenas Weg auf der Suche nach Daniel. Gerade Lenas Besuch bei Amnesty International in Santiago deutet bereits an, wie verstrickt auch höhere Ebenen des chilenischen Staates in die Machenschaften der Colonia waren: Der Mitarbeiter im Büro (Martin Wuttke, »Cloud Atlas«) wiegelt Lena zunächst freundlich ab, winkt ihr aber zu bleiben, wirft die Tür ins Schloss und dreht Musik laut: »Jetzt können wir reden.« Diese Notwendigkeit, vor falschen Ohren auf der Hut zu sein, niemandem trauen zu können, zieht sich wie ein roter Faden durch den Film und wird in der Colonia von Aufseherinnen und Paul Schäfer auf die Spitze getrieben.
Mit der bangen Frage, ob Lena und Daniel tatsächlich die Flucht aus dem Albtraum gelingen kann, wird solide Spannung aufgebaut, und das Ende wartet mit einer Wendung auf, die gerade in den letzten Minuten noch einmal für Nägelkauen sorgt. Insgesamt ist »Colonia Dignidad« ein handwerklich sauber inszenierter Thriller, bei dem Dramaturgie, Bilder und Musik stimmig ineinandergreifen und die Schauspieler eine sehr gute Leistung abliefern. Ein wenig schade ist es vielleicht, dass der Blick auf die Colonia sehr statisch bleibt; ihre Ursprünge und Entwicklung näher zu beleuchten, zu hinterfragen, wie es zu den engen Verflechtungen mit den höchsten staatlichen Instanzen Chiles kommen konnte und wie es vor allem vor Pinochets Putsch aussah, das alles wollte sich der Film explizit nicht zu seiner Aufgabe machen. Produzent Benjamin Herrmann zufolge wollte man vielmehr »den Fokus auf den Mikrokosmos der Colonia legen, dieses Staates im Staate«.
Dieser Anspruch wird durchaus gelungen umgesetzt, denn die abgeschottete Colonia mit ihren beklemmenden Regeln scheint als Schauplatz für einen Thriller nahezu prädestiniert. Zudem werden die Verbindungen zwischen Colonia und Pinochet-Diktatur nicht nur angedeutet, sondern auch als tragende Elemente in die Filmhandlung eingeflochten — schließlich verspricht Paul Schäfer Pinochets Geheimdienst hocheffizientes Giftgas, dessen Wirksamkeit er ohne zu zögern an Menschen testen will. Mit einem Blick auf die historische Dynamik der Colonia hätte der Film möglicherweise dennoch weiter an Tiefe gewinnen können. So oder so bleibt der Abspann als Schlag in die Magengrube — obwohl die Vorgänge in der Colonia schon lange auch international bekannt waren, wurde Paul Schäfer erst 2004 verhaftet und wegen vielfachen Kindesmissbrauchs verurteilt.
Fazit
»Colonia Dignidad« ist ein handwerklich überzeugender und atmosphärisch inszenierter Thriller, der auch mit seinen hervorragenden Darstellern punktet und die Problematik der historischen Colonia Dignidad in Chile eindrucksvoll auf die Leinwand bringt. Die sich selbst gesteckten Ziele erreicht der Film und weiß zu fesseln, wobei zwischen den Zeilen das Gefühl bleibt, dass sogar noch mehr möglich gewesen wäre. Einen Kinobesuch aber auf jeden Fall wert.
Autor: Sabrina Železný