Inhalt
In einer dystopischen Welt, in der nur noch wenige in der Lage sindSchmerzen zu empfinden, entwickeln mehr und mehr Menschen Organe mitbislang unbekannten Fähigkeiten. Performance-Star Saul Tenser nutztseine Mutationen für die Kunst: In umjubelten Avantgarde-Showslässt er sich die neu erwachsenen Körperteile von seinerPartnerin Caprice vor Live-Publikum herausoperieren. Seinespektakulären Darbietungen wecken bald den Argwohn der staatlichenOrgan-Registrierungsbehörde und auch eine mysteriöseUntergrundorganisation verfolgt akribisch jeden seiner Schritte. Doch dannerhält Saul ein Angebot für die schockierendste Vorstellungseines Lebens.
Kritik
„Surgery is the new sex“, lautete das verführerische Versprechen, das David Cronenbergs (Maps to the Stars) im wortwörtlichsten Sinne fleischliche Filmphantasie sinnlicher Skalpelle, erregender Eingriffe und orgasmischer Operationen mehr als einlöst. Mit einem Wettbewerbsbeitrag, der die auf skiletale Strukturen kondensierte Handlung mit systemkritischer Symbolik auflädt, reanimiert der kanadische Regisseur nach langjähriger Abstinenz den Body-Horror mit einem schillernden chirurgischen Salonstück. Physische Verfremdung medizinischer und biologischer Natur und dadurch verursachte Sensationen - Schmerz, Lust und beider Verbindung - werden zu moralphilosophischen Metaphern.
Deren Kontemplation und Diskussion sind der eigentliche Schwerpunkt des gesellschaftspsychologischen Grand Guignols, überreich an visuellen und narrativen Analogien. Die furiose Ausstattung kontrastiert die monumentalen Verfallsbauten der griechischen Schauplätze mit fossilen Knochenkonstruktionen. Organische Ornamente, die H. R. Gigers biomechanische Bildwelten beschwören, dienen der neurasthenischen Menschheit der Zukunft als Memento einer fast vergessenen Mortalität. Die evolutionsbiologisch Anästhesierten hungern nach Wunden, die sie an die Lebendigkeit ihrer unempfindlichen Körper erinnert. Amateurmedizinische Publikumsunterhaltung und Darbietungen physischer Anomalien sind (wieder) en vogue.
Auf der Bühne dieses hyperästhetischen Horror-Theaters, dessen subtile Schocks als futuristischer Spiegel der Vergangenheit und Gegenwart fungieren, stehen der in seinem Körper neue Organe brütenden Saul Tenser (Viggo Mortensen, Dreizehn Leben) und seine Performance-Partnerin Caprice (Léa Seydoux, The French Dispatch). Ihre invasiven Vorführungen überwinden konventionelle Konstrukte von Schönheit und Sexualität, deren staatliche Aufrechterhaltung die Gesellschaft nicht nur intellektuell verstümmelt. Mit schneidendem Sarkasmus seziert Cronenberg eine politische Psyche, die sich im Streben nach institutionalisierter Körperkontrolle ins eigene Fleisch schneidet.
Fazit
Die Fragilität körperlicher Autonomie ist das pulsierende Herz David Cronenbergs ebenso progressiver wie provokanter Schaueroper voll barocker Blutrünstigkeit und exaltierte Erotik. Mittels makaberer Metaphorik verweist die kondensierte Story auf die unscharfe Grenze zwischen Normalität und Normierung. Der Subtext des jeden Sensationalismus vermeidenden Science-Fiction-Thrillers steht in Kontrast zu einer reaktionären Kultur- und Körperpolitik. Deren Zwänge erscheinen auf der Leinwand in warnender Symbolen als Folter-Mobiliar und Organpolizei, die selbst das Innerste registriert und korrigiert.
Autor: Lida Bach