Inhalt
Neun Jahre hat Theo wegen mehrfacher Vergewaltigung gesessen. Jetzt will er ein neues Leben beginnen. Während er in der betreuten Wohngemeinschaft im trostlosen Mühlheim Fuß zu fassen versucht, spürt er, wie sein brutaler Trieb langsam wieder in ihm aufsteigt. Dann trifft er die 27-jährige Nettie, die sich nach jahrelangem psychischen Martyrium endlich von ihrem Vater gelöst hat. Vorsichtig und argwöhnisch beginnen die beiden eine Liebesbeziehung ...
Kritik
Ein Vergewaltiger als Dreh- und Angelpunkt eines Filmes, der sich von der ersten bis zur letzten Minute vollkommen darüber im Klaren ist, dass jede Moralisierung nur ein stupider Rückgriff auf die eigene erzählerische Inkompetenz in der Freilegung von humanen Verhaltenszügen ist? Das verlangt nicht nur intellektuelle Größe, sondern auch inszenatorische Weitsicht. Matthias Glasner (Gnade, Blochin) ist ein Regisseur, der über diese beiden Fähigkeiten verfügt. Viel zu gerne wird eine solch brisante Thematik in ihre ethischen Einzelteile zerpflückt, in dem psychosomatische Assoziationen dilettantisch wirken und pathologische Triebe immer einer Wertung unterliegen, die schlussendlich ins Nichts führt und dem Schuldigen dann die Strafe aufbrummt, die die ganze Welt einem solchen „Monster“ nur wünscht: Denn Mitleid mit einem derartigen Unmenschen zu haben, ist beinahe genauso verwerflich, wie die vorherigen Taten dieser Person selbst.
Matthias Glasner verzichtet in Der freie Wille vollständig auf die engstirnigen Schwarz-Weiß-Kleistereien und hüllt die Geschichte um Theo (subtil, authentisch, hervorragend: Jürgen Vogel, Die Welle) in einen frostigen Mantel des zwischenmenschlichen Determinismus. Jeder Anklage der Verhaltensweisen der Charaktere wird entflohen; der Zuschauer beobachtet und darf seine eigene Meinung bilden wie Entscheidungen treffen. Ein sklavisches Ausbuchstabieren von Ursachen ist so überflüssig wie hinderlich. Daher wird auch deutlich, dass der ungemein kontemplative Der freie Wille kein analysierende Psychografie sein möchte, er zieht den Zuschauer hingegen in die Welt eines kranken Mannes, der zusehends an seinem Wunsch nach resozialisierter Freiheit scheitert und schlussendlich an die Grenzen des titelgebenden Willens stößt. Auch wenn das den Horizont des Gelegenheitszappers und Matthias Schweighöfer-Liebhabern übersteigt: Eine Hauptfigur muss nicht auf Biegen und Brechen auf sympathisch getrimmt sein, viel wichtiger ist, dass ihre Charakterzeichnung organisch wirkt.
Daher erscheint Der freie Wille mal wie ein intimes, zärtliches Flüstern, das leise Hoffnungen auf ein Leben in Normalität weckt, um doch im nächsten Moment wieder wie ein zügellos-intensiver Aufschrei zu zerbersten. Matthias Glasner hat ohne Frage schwere Filmkost geschaffen, die in ihrer Aufmachung keinesfalls massenkompatibel daherkommt, doch der aufgeschlossene Zuschauer wird dem Martyrium von Theo und Nettie (Ebenfalls fantastisch: Sabine Timoteo, Die Mitte der Welt) gebannt folgen, egal welche Präsenz der psychischen und physischen Misshandlung diesem zugesprochen wird. Es steht nicht in Glasners Sinn, die große Kontroverse zu entfachen und seine leidenden Charaktere mit aller Kraft bis auf den Boden der Tatsachen auszuschlachten. Hier wird bewiesen, wie man sich einem solch schweren Thema annehmen kann und wie man den Fokus konsequent auf den Menschen selbst richtet, nicht auf die psychosozial-verankerten Motive seines Verhaltens. Anspruchsvolles und verdammt ehrliches Kino.
Fazit
Ein bleierner Brocken von Film. "Der freie Wille" verlangt dem Zuschauer genauso viel ab, wie er ihm auch zu geben vermag. Wer sich für das (deutschsprachige) Grenzkino begeistern kann, in dem die Anbiederung an die Massenkompatibilität ausbleiben, der ist mit "Der freie Wille" an der richtigen Adresse. Eine echte Herausforderung, die die eigene Erfahrungswelt aber gleichwohl erheblich bereichert. Ein famoser Schlag in die Magengrube.
Autor: Pascal Reis