Inhalt
Es ist ein Sonntag im Spätsommer 1912, irgendwo in Frankreich. Der zurückgezogen lebende, verwitwite Maler Ladmiral wird wie jeden Sonntag von seinem Sohn sowie dessen Frau und Kindern besucht. Obgleich liebenswert, spiegeln sie die Ambitionslosigkeit, die Ladmiral schon seit geraumer Zeit in seiner eigenen Malerei ausmacht. Als diesen Sonntag jedoch zur Überraschung aller auch seine emanzipierte Tochter Irène aus Paris vorfährt, verändert das die sonntägliche Eintönigkeit.
Kritik
Erinnerungen sind tückisch. Wer sich an ihnen festhält, droht abzustürzen. Ebenso lassen sich Erinnerungen selbst nicht festhalten. Blickt man in alte, verblichene Fotoalben, stellt man sich unmittelbar auch immer die Frage, was sich jenseits der Bilder abgespielt hat, beinahe wie Puzzleteile, die nicht ineinandergreifen. Bertrand Tavernier (Der Uhrmacher von St. Paul) ist sich dessen bewusst, als er 1984 seinen Film Un dimanche à la campagne in Cannes vorstellt, eine Adaption des Romans von letzten Romans Pierre Bosts aus dem Jahr 1945, mit dem sich dieser von der Literatur ab- und den Drehbüchern zuwandte. Tavernier versteht sich nicht nur als Regisseur, in erster Linie ist er Geschichtenerzähler, und als solcher weiß er, dass es beim Schildern einer Erinnerung auf die poetische, nicht die tatsächliche Wahrheit ankommt.
Die Gefühle, die sich untrennbar mit Erinnerungen vermischen, wären schließlich auch dann real, wenn sie auf einer Illusion beruhen. Die Frage nach der Illusion ist derweil eine Frage, die groß und breit im Raum steht in Taverniers Sonntag auf dem Lande, eine Geschichte um den verwitweten Maler Ladmiral (Louis Ducreux, Die Zwei Leben der Veronika ), der im hohen Alter mit seiner Haushälterin Mercédès (Monique Chaumette, Das große Fressen) zusammenlebt. Dort, auf seinem üppigen, ausladenden Landgut, wird er eines Sonntags im Spätsommer 1912 von seinem treuen, wenngleich etwas geistlosen, Sohn Gonzague (Michel Aumont, Ruby & Quentin -Der Killer und die Klette) und dessen Frau Marie-Thérèse (Geneviève Mnich, Warum nicht!) und ihren drei Kindern besucht. In dem Besuch steckt Routine, es ist ein Sonntag wie jeder andere. Alles geht so seiner Ordnung nach; nichts deutet darauf hin, dass das Land in weniger als zwei Jahren in einen Krieg bisher nicht dagewesenen Ausmaßes verwickelt sein wird. Es ist die Illusion eines unendlichen Friedens, eines Zurück zur Natur.
Die Dynamik verändert sich sichtlich, als eines sonntags die single-lebende Tochter Ladmirals, Irène (Sabine Azéma, Mélo), in ihrem Wagen vorbeifährt. Mit ihrem freien Geist und ihrer Unabhängigkeit verkörpert sie all die Sehnsüchte, aber auch, wovor er sich als Künstler stets gefürchtet hat: sich selbst einem Risiko auszusetzen. Sein ganzes Leben hat er auf eine Weise gemalt, wie es die Meister vor ihm gemacht haben, gemalt in der Tradition einer Schule, die zwischen richtig und falsch unterscheidet. Obgleich es sich um einen ihrer ganz seltenen Besuche handelt, wird schnell deutlich, dass Irène einen besonderen Platz im Herzen ihres Vaters hat, dass ihre Beziehung eine Ausprägung besitzt, die es zwischen Ladmiral und seinem Sohn niemals wird geben können, denn sie beide führen ein Leben mit und für die Kunst.
Das zu sehen mutet bisweilen an, als lese blättere man durch die vergilbten Seiten eines Marcel-Pagnol-Romans. Explizite Konflikte sucht man hier vergebens; die Enkelin gerät noch in die heikelste Situation, als sie es nicht mehr von einem Baum herunterschafft und von ihrem Vater von diesem heruntergepflückt werden muss. Ansonsten sind es immer mal wieder die beiden Brüder, die irgendetwas anstellen, was für einen winzigen Moment für Aufregung sorgt, ehe es Sekunden später in Bedeutungslosigkeit verschwunden ist. Im Leben Gonzagues und seiner Familie gibt es keinen Platz für das Spontane, das Verrückte, stattdessen dienen das Gemäßigte und das Geregelte als oberstes Prinzip in dieser unvermutet kleinbürgerlichen Familie.
Und so ist das Auftauchen einer unangepassten Tochter bzw. Schwester bzw. Schwägerin bzw. Tante alles, was es braucht, um ein bisschen Staub dort aufzuwirbeln, wo sich seit Jahren nichts verändert hat. Gleichzeitig verkörpert die in Paris lebende Irène den ‘neuen’ Menschen der Moderne, der nicht mehr ganz hineinpassen will in diese Jean Renoir entlehnte Ästhetik, an der sich Tavernier orientiert. Während ihr Bruder mit seiner Familie mit dem Zug anreist und von seinem Vater zu Fuß abgeholt wird, fährt Irène mit ihrem Auto vor, und statt eines Partner macht es sich ihr schwarzer Pudel auf dem Beifahrersitz bequem. Die Familie, so deutet es Tavernier an, steht vor einem gesellschaftlichen Umbruch; im Angesicht einer zunehmenden Individualisierung der Gesellschaft gesteht man ihr nicht mehr notwendigerweise einen Wert an sich zu. Passend ist es da auch, dass Irène sich telefonisch ständig nach Paris verbinden lässt. Sich an einem Ort zu befinden beschränkt schon längst niemanden mehr dazu, ausschließlich dort präsent zu sein. Bezeichnenderweise sind es die Gespräche am Telefon, die Irène emotional aufrütteln, nicht die Begegnungen mit ihrer Familie.
Über diesem Sonntag hängt indes ein Schleier bittersüßer Melancholie. Die verstorbene Ehefrau bzw. Mutter bzw. Großmutter spukt noch in den Köpfen von Ladmiral und Irene herum, ihr Geist ist immer noch omnipräsent. Und auch gibt es da diese Lücke zwischen Vater und Tochter, die niemals wird überschritten werden können, ganz als gäbe es eine Macht, die beide dazu zwänge einzusehen, dass die Dinge eben so seien wie sind. Ladmiral hegt eine überbordende Bewunderung für seine Tochter, doch ihre Eigenständigkeit, die Selbstverständlichkeit, mit der sie eigenständig durchs Leben geht, löst in ihm gleichzeitig Stolz und Entfremdung aus. Es entbehrt nicht einer gewissen Tragik, dass seine liberale Erziehung womöglich dazu beigetragen hat, dass er es nicht mehr wagt, intime Fragen an seine Tochter zu stellen, als wüsste er nicht länger, wo die Grenze zu ziehen ist. Tatsächlich bildet die Vater-Tochter-Beziehung das Herzstück dieses seltsam in sich gekehrten Films.
Die Introspektion, soviel wird klar, äußert sich nicht nur in den warmen, impressionistischen Bildern, für die Tavernier 1984 in Cannes den Prix mise en scene erhielt; es ist vielmehr ein Leitmotiv der Geschichte, das sich in ihren Charakteren spiegelt. Für Ladmiral, der sich, wie wir vom voice-over-Erzähler Tavernier erfahren, täglich darum sorgt, Mercédès könne ihn allein zurücklassen, für den die Tage, da es zehn Fußminuten bis zum Bahnhof waren, vorbei sind, in dessen Haus die Sonnenstrahlen innerhalb der letzten Dekaden die Einrichtung verblichen hat, ist es besonders der Gedanke, er werde zum Ende seines Lebens bereuen, nicht anders gelebt zu haben, schmerzlich präsent. Mit solchen Gedanken behaftet, ist ihm die Gegenwart Irènes ebenso lieb wie unerträglich, verkörpert sie doch all die Freigeistigkeit, all die Energie, all das Potenzial, dass ihm, womöglich irreversibel, abhanden gekommen ist. Doch diese Begegnung mit Irène bringt nicht nur Schmerz und eine Selbstmitleid mit sich, es führt auch einen Perspektivwechsel herbei. Wenn Ladmiral gegen Ende des Filmes zum Haus zurückkehrt und sich bei Mercédès beschwert, sie solle nicht immer die Fensterläden vor Einbruch der Dunkelheit schließen, gibt sich da ein Fünkchen Leben zu erkennen, und als er dann ein altbekanntes Motiv für seine Leinwand verwirft, die Staffelei stattdessen, mit Gedanken an seine Tochter, um 180 Grad dreht, da mag ein mancher erkennen, wie sich dieses Fünkchen entzündet. Vielleicht ist es noch nicht zu spät, um einen neuen Weg einzuschlagen.
Fazit
Mit weichem Pinsel und warmen Farben erschafft Tavernier eine Utopie des französischen Landlebens am Vorabend des ersten Weltkriegs, in die sich feine Risse einschleichen. Dabei gelingt ihm ein feinfühliges, subtiles Drama, das eine Brücke schafft zwischen Illusion und Ambition, Gesagtem und Ungesagten, Sehnsucht und Verlust.
Autor: Patrick Fey