Inhalt
Die Soziologiestudentin Lera lebt zusammen mit ihrer depressiven Mutter in einem heruntergekommenen Apartmentkomplex. Regelmäßig werden sie von dem gewalttätigen und alkoholabhängigen Vater terrorisiert, der die Familie erst kürzlich für eine andere Frau verlassen hat. Um sich und ihre Mutter durchzubringen, arbeitet Lera nachts als Tänzerin in einem Club, wo sie unter dem Künstlernamen Gerda die Begierden ihrer männlichen Kunden befriedigt. Während Lera von einem besseren Leben träumt, lassen sie das Elend und die Armut in der Gesellschaft, mit denen sie im Zuge einer Bürgerumfrage für ihr Studienpraktikum konfrontiert wird, zunehmend verzweifeln ...
Kritik
Es ist ein unangenehmer Zyklus aus Missbrauch, Pflege und Armut, vor dem sich Lera (Anastasiya Krasovskaya) nicht verschließen kann, weil sie im Auge eines Orkans steht, der sich zur verkrusteten Alltäglichkeit beruhigt hat. Die Stimmung, die Gerda durchzieht, ist keine eskalative, sondern eine melancholisch ruhende. Regisseurin Natalya Kudryashova führt uns durch den überladenen Alltag Leras, wobei sich die verschiedenen Schnipsel ihres Lebens dementsprechend episodisch zusammengeführt anfühlen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass sie ästhetisch ganz unterschiedlich aufgeladen sind. Während die Szenen im Elternhaus in der Tristesse konventioneller Sozialdramen daherkommen, haben Aufnahmen im Nachtclub etwas beinahe Experimentelles an sich. Frei von Expression sind wiederum viele klinisch-kühle Momente, in denen Lera die Fragen des Umfragebogens abarbeitet, der sie im Zuge eines Studienpraktikums in viele verschiedene Haushälte führt.
In den Settings des Nachtclubs und des Studienpraktikums wahrt Lera eine kühle, professionelle Distanz, die durch die Intimität von Sexualität auf der einen und die prekärer Verhältnisse in privaten Wohnräumen auf der anderen Seite eine entfremdete Wirkung entfalten. Die unterdrückten Gefühle der Protagonistin treffen auf die unartikulierbaren Emotionen ihrer Kunden und Befragten, die im zerstörten Verhältnis zu körperlicher Intimität oder zur Idee eines "guten Lebens" im Allgemeinen stehen. Diese brüchigen Begegnungen gewinnen an besonderer Tiefe, wenn es zu Momenten gegenseitigen Erkennens oder zum Austausch empathischer Gesten kommt. Ein Schokoriegel, den Lera der Tochter eines Befragten reicht, kann so schnell zu einem Wärmeherd werden, der mit anderen zum Marker von Menschlichkeit in einer sonst tristen Erzählung wird.
Durchzogen von einem mysthischen Element, das sich in der zweiten Hälfte ausweitet, entwickelt Gerda einen Unterbau seelischer Entwicklung, der in Kombination mit den ausgereiften Ästhetiken einzelner Lebensepisoden den Film über die Durchschnittlichkeit hinwegrettet. Denn ansonsten scheint der Plot konventionell die zentralsten Motive gängiger Sozialdramen abzuhaken, um sich mit stetigem Gewicht auf dem Gemüt der Zuschauenden niederzulassen. Auch formuliert er seine vage Sozialkritik durch das von Lera durchgeführte Umfrageformat zu stark aus, anstatt die Zerstörtheit der gezeigten Individuen für sich sprechen zu lassen. Übrig bleibt ein deprimierendes Werk, das trotz klischeehaftem Plot als Porträt verlorener Individuen Russlands zu überzeugen weiß.
Fazit
"Gerda" ist ein tristes Sozialdrama, das als Porträt der russischen Gesellschaft zu überzeugen weiß. Zwar erscheint sein Plot allzu ausgestellt und verliert sich bisweilen in seiner erdrückenden Depressivität, doch findet das Werk eine originelle und abwechslungsreiche Bildsprache.
Autor: Maximilian Knade