Inhalt
Alles ist verschwommen; eine junge Frau setzt ihre Kontaktlinsen auf und alles nimmt Gestalt an. Sie ist an ein langweiliges Leben gewöhnt, wird aber von einer Kultfigur aus einem bahnbrechenden Film, die in ihrem kleinen Raum allwissend ist, dazu inspiriert, in die Welt hinauszugehen.
Kritik
Was ist Wirklichkeit und was eine Scheinwelt? Ist das Szenario auf der Leinwand eine Projektion, eine exemplarische Vorgabe oder Inszenierung? Und wer bestimmt deren Inhalt? Die Fragen stellen sich auf mehreren Ebenen in Ruiqi Lus subjektiven Spielfilm-Debüt, das mit lakonischer Symbolik und dezentem Humor an die Bildsprache und Formalismen ihrer Kurzfilme anlehnt. Eine kondensierte Struktur wäre wohl auch die geeignetere Version für die minimalistische Vision am Schnittpunkt von Alltagsskizze und Abstraktion.
Die spürbare Länge des Geschehens, die Eindrücke von Monotonie, Repetition und Leere sind jedoch alles andere als zufällig in der durchdachten Anordnung, die für das Publikum den Film. Nicht nur sichtbar und hörbar, sondern direkt erlebbar machen soll. Synesthesia nennt die Regisseurin das kinematische Konzept, das alle Sinne miteinbeziehen soll. Dazu gehört die erschöpfende Ereignislosigkeit in der Wohnung der jungen Protagonistin, die sich darin wie in einem eleganten Gefängnis bewegt.
Das Piepen von Waschmaschine und Mikrowelle wird zur elektronischen Ermahnung, die Haushaltspflichten zu erfüllen. Eine auf einer fensterartigen Leinwand präsente zweite Frau (Yunxi Zhong), die zugleich Überwacherin, Mitgefangene und Alter Ego scheint, charakterisiert die erstickende Existenz als moderner Äquivalent eines patriarchalischen Hausfrauenideals, dessen Umstände sich nur äußerlich verändert haben. Technischer Fortschritt steht im konfrontativen Kontrast zur Rückständigkeit einer unverändert gender-geteilten Gesellschaft. Obschon unsichtbar, sind deren Machtstrukturen und Mauern stets greifbar.
Fazit
„Experimentalfilm“ scheint ein unpassender Begriff für ein Werk, das so klar strukturiert und detailliert konzipiert ist wie Ruiqi Lus erster Langfilm. Dessen dramatische Reduktion und allegorische Anordnung fordern die Geduld und Gewohnheiten eines Publikums in Erwartung einer konventionellen Erzählung, aber belohnt mit einer ebenso zugänglichen wie zeitaktuellen Interpretation soziologischer Strukturen und internalisierter Zwänge. Die titelgebenden Linsen verweisen sowohl auf die Ambivalenz korrektiver Konzepte als auch das differenzierte Deutungsspektrum von Projektion und Perspektive.
Autor: Lida Bach