Inhalt
Der renommierte 63-jährige Rechtsanwalt Arthur eröffnet seiner Frau Eve und seinen drei erwachsenen Töchtern aus heiterem Himmel, dass er eine Weile von ihnen getrennt leben möchte. Dieser Versuch, sich aus erstarrten Verhältnissen zu befreien, stürzt seine Frau in eine tiefe Krise. Auch seine Töchter haben Probleme damit. Als ihr Vater sich schließlich sogar scheiden lässt und eine andere Frau heiratet, kommt es zur Katastrophe.
Kritik
Innenleben stellt in vielerlei Hinsicht einen Wendepunkt in der Karriere von Woody Allen da, und dies zu einem Zeitpunkt, wie er wagemutiger kaum sein könnte. Mit Der Stadtneurotiker hatte der New Yorker Filmemacher gerade seinen kommerziellen Höhepunkt erreicht. Der Film wurde mit vier Oscars in den Königskategorien ausgezeichnet, darunter allein zwei (Beste Regie, Bestes Originaldrehbuch) für ihn persönlich. Allen gelang es damit erstmals, seine bisher durch Slapstick und schrillen Humor dominierende Arbeit in eine etwas seriösere Richtung zu lenken. Zwar waren schon Filme wie Bananas, Was Sie schon immer über Sex wissen wollten, Der Schläfer oder Die letzte Nacht des Boris Gruschenko durchzogen von einer intellektuellen Eben und scharfsinnigem Zeitgeist, waren im Kern aber immer reine Komödien, bei denen es gerne auch albern und nicht zuletzt auch zotig zugehen durfte. Etwas, was besonders aus heutiger Sicht und mit Blick auf die Historie rund um die reale Person Woody Allen einen unangenehmen Beigeschmack beinhaltet. Der Stadtneurotiker war wesentlich reifer, ernsthafter, tiefsinniger, wirkte aber dennoch nicht wie ein radikaler Umbruch, sondern wie eine konsequente und in seiner immensen Qualitätssteigerung lediglich erstaunlich schnelle Weiterentwicklung.
Jetzt, auf seinem persönlichen Olymp und mit dem Lobgesang der öffentlichen Wahrnehmung im Rücken, wagte sich Woody Allen komplett aus der bisherigen, persönlichen Wohlfühlzone heraus und verbeugt sich vor seinem großen Idol. Auf die Gefahr hin, damit die bisher aufgebaute und neugewonnene Fanbase deutlich zu verschrecken. Denn selbst zu Der Stadtneurotiker erweist sich dieser als ein komplett anderer Film und wer Woody Allen nur über seine vorherigen Arbeiten kennen und lieben gelernt hatte, dürfte ihn kaum wiedererkennen. Innenleben ist unverkennbar eine riesige Hommage an Ingmar Bergman (Persona) und sogar noch viel mehr: es ist wohl DER US-Film, der sich am ehesten mit einem waschechten Bergman-Film vergleichen ließe. Missgünstig ließe sich unterstellen, dass Woody Allen sich hier so überdeutlich in Sachen Handlung, Stilistik, Inszenierung und sogar Dialogen an seinem Vorbild orientiert, dass das Wort „Kopie“ in gewisser Weise nicht ganz abzustreiten ist. Aber es ist eben nicht so einfach, einen Bergman auf vergleichbarem Niveau zu kopieren, wie es viele angefixte Filmemacher Mitte/Ende der 90er versuchten, krampfhaft auf Quentin Tarantino zu machen. Wenn man diesem Film und Woody Allen das wohl größtmögliche Kompliment aussprechen kann, dann wohl, dass es sich jederzeit anfühlt wie ein „echter“ Bergman. Und selbst in dieser Hinsicht einer der Besten.
Woody Allen verzichtet hier erstmals nicht nur auf seinen bis dahin unausweichlichen Humor (selbst Der Stadtneurotiker kann noch mühelos als Komödie bezeichnet werden), es ist auch der erste Film, in dem er nicht selbst vor die Kamera tritt. Eine weise Entscheidung. Man stelle sich ihn nur mal vor in den verfügbaren Rollen, vermutlich denen von Sam Waterston (Heaven’s Gate – Das Tor zum Himmel) oder Richard Jordan (Dune – Der Wüstenplanet). Man würde unweigerlich die von ihm bis dahin selbst etablierte, semi-autobiographische Figur des schrullig-neurotischen Tölpels sehen, die automatisch die vermutlich eh schon schwierige Erwartungshaltung noch befeuert hätte. Durch seine On-Screen-Abstinenz unterstreicht er nochmal mehr die Ernsthaftigkeit seines Anliegens. Auch wenn hier sicherlich noch die ein oder andere authentische Erfahrung miteinfließt (so hadert der von Richard Jordan verkörperte Frederick mit der öffentlichen Wahrnehmung als Künstler, in dem seine ernsthaften Arbeiten kaum wertgeschätzt werden, er aber Anerkennung durch seine „schlichten“ Werke bekommt).
Innenleben gräbt tief in die psychischen Strukturen einer Familie, die sich nach Jahrzehnten von notdürftig akzeptierter, aber unlängst als selbstverständlich gelebter Frustration damit auseinandersetzen muss, dass Vater Arthur (E.G. Marshall, Der Zwang zum Bösen) dem unglücklichen Teufelskreis durchbricht. Er trennt sich – zunächst angeblich „auf Zeit“ – von seiner herrisch-dominanten Ehefrau Eve (herausragend: Geraldine Page, Betrogen), da die Töchter inzwischen auf eigenen Beinen stehen und somit unter diesem Zustand nicht großartig leiden dürften. Dies erweist sich jedoch als tragischer Trugschluss, denn Eve vereinnahmt und spaltet die ohnehin sehr ungleichen Geschwister und deren eigenen Familien in der Folge umso mehr. Was folgt, ist eine abgründige Familientragödie, die Woody Allen nicht nur thematisch und dramaturgisch, sondern auch inszenatorisch haarklein am Schaffen von Ingmar Bergman anlehnt.
Statt scharfzüngigem Sarkasmus und verspielter Leichtigkeit wird das Publikum mit einer tonnenschweren Melancholie erdrückt, die sich wie eine Schlinge um den Hals immer fester zusammenschnürt. Das ist nicht nur ganz hervorragend gespielt, sondern im Speziellen kontrovers und grandios inszeniert. Kontrovers, aber eigentlich nur im Bezug auf US-Sehgewohnheiten, denn wie gesagt, dass ist Ingmar Bergman in Reinkultur. Die Kamera scheint die Figuren aufzusaugen, jede Gestik und Mimik ist von Bedeutung, jede Dialogzeile liegt auf der Goldwaage und kein noch so winziges Detail erscheint beiläufig. Innenleben ist anstrengend, aufreibend, zerstörerisch und so intensiv, dass er einen schier droht zu verschlucken . So gut bis grandios Woody Allen-Filme bis dahin waren, Innenleben hebt sein Schaffen mit einem Ruck auf einen ganz anderen Level. Einen, den er in der Folge nicht in dieser Konsequenz weiterverfolgen sollte, aber in der Filmwelt ist auch ehrlich gesagt nur Platz für einen Bergman. Aber bemerkenswert zu sehen, dass es einer mit ihm aufnehmen konnte.
Fazit
Das dieser Film seinerzeit - und selbst heute noch – nicht flächendeckend wohlwollend im Woody Allen-Kosmos aufgenommen wurde, liegt eindeutig an dem Mut sich komplett von dem zu entfernen, was bis dahin den Erfolg erst zementierte. „Innenleben“ ist ein wahrhaftiges Monster und die wohl größte und beste Liebeserklärung, die ein damals schon aktiver Filmemacher Ingmar Bergman jemals machen konnte.
Autor: Jacko Kunze