Inhalt
England 1947. Der berühmte Detektiv Sherlock Holmes, 93 Jahre alt, lebt in seinem Landhaus in Sussex. Wenn er ins Kino geht und einen Film über sich sieht, schüttelt er meist nur den Kopf. Denn vieles, was er an Heldengeschichten erlebt haben soll, ist frei erfunden. Den legendären Hut trug er nie, und statt der Pfeife bevorzugte er stets Zigaretten. Seit langem in Rente, hält er sich von den Menschen fern und widmet sich vorwiegend der Bienenzucht. In seiner Nähe duldet er nur die Haushälterin Mrs. Munro und ihren kleinen Sohn Roger, den er in die Geheimnisse der Imkerei einweiht. Doch manchmal bedrängen ihn Erinnerungen an alte Fälle. Was geschah wirklich mit der geheimnisvollen Ann Kelmot, die er im Auftrag ihres Ehemannes beschattete? Und was verbindet ihn mit der Familie Umezaki, die ihn nach Japan einlädt? Holmes bricht zu einer letzten großen Reise auf, erlebt ein botanisches Wunder und entschließt sich zu einer barmherzigen Lüge...
Kritik
Man mag es kaum glauben, doch Sherlock Holmes, die von Sir Arthur Conan Doyle im Jahre 1887 ins Leben gerufene Meisterspürnase, befindet sich momentan in der regelrechten Blüte ihrer Reputation. Nicht nur, dass Guy Ritchie Superstar Robert Downey Jr. in „Sherlock Holmes“ und „Sherlock Holmes: Spiel im Schatten“ gleich zweimal in die titelgebende Rolle des Helden schlüpfen ließ und diesen glatt zur omnipräsenten Blockbusterattraktion stilisierte. Mit dem BBC-Format „Sherlock“ sowie dem auf CBS ausgestrahlten „Elementary“ hat es der ikonische Tüftler aus der Baker Street 221b ebenfalls vollbracht, auf dem Serienmarkt Fuß zu fassen – und das selbstredend in nicht gerade unwirksamer Fasson. Nun, wie könnte es auch anders sein, hemmungslos, wie sich der Markt seit jeher präsentiert, darf in diesem Jahr eine weitere Sherlock-Holmes-Interpretation auf sich aufmerksam machen: Die zurückgenommene Charakter-Studie „Mr. Holmes“ von Bill Condon („Gods & Monsters“). Könnte es bei der Fülle an Sherlock-Holmes-Abenteuern allerdings schon zu einem Übersättigungsgefühl kommen?
Möglicherweise, allerdings nicht bei „Mr. Holmes“, haben Bill Condon und Jeffrey Hatcher doch eine Herangehensweise an das populärkulturelle Phänomen gewählt, die sich weniger dadurch auszeichnet, genau diesen allseits bekannten Personenkult zu stimulieren, denn Sherlock Holmes (Ian McKellen, „Der Hobbit: Die Schlacht der Fünf Heere“) als Menschen zu zeigen, der nicht mehr nur mit verzwickten Rätseln zu kämpfen hat, sondern auch mit der Unbarmherzigkeit des Alters, welches ihm nach und nach seine stärkste Waffe zu entreißen versucht: Seinen Verstand. „Mr. Holmes“ ist kein Film, der sich einem rein kriminalistisch geprägten Narrativ unterwirft, stattdessen ist es Bill Condon daran gelegt, ein greifbares Porträt des Mannes zu entwerfen, den die breite Masse nur mit Deerstalker-Mütze und Rauchinstrument im Mundwinkel wahrzunehmen scheint. Angenehmerweise blickt „Mr. Holmes“ hinter die Markenzeichen des scharfsinnigen Detektivs, schlägt seine schnippisch-ironischen Spitzen in Richtung Legendenbildung und definiert sich primär als fiktives, erfrischend unaufgeregtes Biopic.
Seine Gesicht ist geziert von tiefen Falten und Altersflecken, doch nicht nur seine Haut signalisiert unmissverständlich, dass dieser Sherlock Holmes, der sich ins provinzielle Sussex zurückgezogen hat, in die Jahre gekommen ist. Wer nun befürchtet, dass Bill Condon sich in hochdramatische Tiefen herabbewegt, die geistige Zerrüttung des Hauptakteurs in all seiner Härte dokumentiert und diesen womöglich noch als senilen Greis dahinscheiden lässt, der setzt sich doch einer etwas verzerrten Erwartungshaltung aus. „Mr. Holmes“ tut nicht weh, das muss er auch gar nicht, und der Umgang mit Sherlock Holmes selbst ist respektvoll und seriös, aber niemals von schockierender Drastik in seiner Wahrhaftigkeit gekennzeichnet. Die Geschichte, die hier erzählt wird, entblättert sich auf mehreren zeitlichen Ebenen, die auch symbolisch akzentuieren, wie es Holmes als Persönlichkeit ergeht, die ihre Prinzipien auf Intelligenz und Rationalität erbaut hat. In Japan, ein Land, mit dem Holmes viele Erinnerungen verknüpft, jedoch soll es eine Pflanze geben, die genau diesem Verfallsprozess angeblich Einhalt gewährt.
Nach und nach führt „Mr. Holmes“ seine Handlungsstränge auf einen Nenner zusammen, im Gedächtnis aber bleibt nicht zuletzt die multigenerationelle Bande, die Sherlock Holmes mit Roger (Milo Parker, „Robot Overlords“), dem Sohn seiner Haushälterin Mrs. Munro (Laura Linney, „Mystic River“), knüpft. Hierbei wird nicht nur veranschaulicht, dass sich Alt und Jung in gleichbedeutsamer Beziehung Halt geben können, sondern auch, wie wunderbar es sein kann, die Leidenschaft(en) seiner selbst an eine neue Generation zu vererben. Wenngleich die Inszenierung seitens Bill Condon zuweilen etwas zu gediegen ausfällt, die pittoresken Aufnahmen der unberührten Sussex-Natur sind eine Augenweide: Man kann sich nicht sattsehen an fruchtbaren Wiesen und Wäldern, an schroffen Klippen und grasenden Tieren. Der Schlüssel zum Erfolg indes lässt sich bei Ian McKellen finden. Sein Minenspiel ist derart zartgliedrig, dass es keinerlei Worte benötigt, um das Innenleben seines Sherlock Holmes zu beschreiben, ein Blick in seine Augen und all der Schmerz, all die Freude in seinem Inneren lassen sich erkunden.
Fazit
Ein wunderbar zurückgenommenes fiktives Biopic, welches sich inszenatorisch zwar hin und wieder etwas zu gediegen präsentiert, aber einen famosen Ian McKellen in der titelgebende Rolle bereithält, der seine Sherlock-Holmes-Interpretation nicht am populärkulturellen Phänomen ausrichtet, sondern Holmes als Menschen darstellt, der damit zu kämpfen hat, dass das Alter ihm seine stärkste Waffe langsam einreißen möchte: Seinen Verstand. Wer mal wieder Lust auf eine sensible, in malerische Bilder gehüllte Charakter-Studie hat, der kann sich „Mr. Holmes“ gerne mal zu Gemüte führen.
Autor: Pascal Reis