Inhalt
Mit 19 Jahren ist Ella bereit, ihr Erwachsenenleben selbstbestimmt zu gestalten. Geboren mit einer Behinderung und seit jeher auf einen Rollstuhl angewiesen, träumt sie davon, nach ihrem Auszug zum Studieren in ihre erste eigene Wohnung zu ziehen. Doch ein abgelehnter Antrag auf Unterstützung zwingt sie in eine Einrichtung – ein schwerer Schlag für ihre lang ersehnte Unabhängigkeit. Gerade als sich die Mauern der Bürokratie immer enger um sie schließen, erlebt Ella etwas völlig Neues: ihre erste Liebe.
Kritik
Die unbekannten Gefühle, die Mari Storstein im Titel ihres autobiographischen Spielfilm-Debüts benennt, meinen nicht nur das erste Verliebtsein, sondern die anderen ersten Male, die auf gerade erwachsene Menschen wie die 19-jährige Ella (ein überzeugendes Hauptrollen-Debüt von Marie Flaatten) warten. Eine ein neues Umfeld, eine eigene Wohnung, der Beginn von Weiterbildung oder Arbeit. Doch was für andere junge Leute allgemein eine Erfahrung von Unabhängigkeit und Selbstbestimmung ist, wird für die entschlossene Protagonistin zu einem gegenteiligen Erlebnis.
Ella sitzt seit früher Kindheit im Rollstuhl und hat motorische Einschränkungen. Ihren Alltag bewältigt sie selbstständig mit Hilfe einer persönlichen Assistentin. Doch der neue Verwaltungsbezirk, in dem sie ihr Studium antritt, lehnt die essenzielle Unterstützung ab. Statt in ihrem eigenen Apartment zieht sie mangels Alternativen in ein Heim für Menschen mit Handicap. Die Zustände dort gleichen einer Mischung aus Kindertagesstätte und Strafanstalt. Fehlende Unterstützung schränkt die Bewohnenden passiv ein, groteske Vorschriften von Sperrstunden bis zu Süßigkeitenverbot aktiv.
Die trüben Aussichten erhellt ihre aufkeimende Romanze mit ihrem Kommilitonen Oliver (Niels Skåber). Doch Ellas einschränkende Wohnsituation und beider Unsicherheiten machen Intimität zur Herausforderung. Selbstwert und soziale Abwertung, Freiheit und Fremdbestimmung, Nähe und Distanz sind die Eckpunkte der empathischen Mischung aus Teenie-Romanze und rebellischem Drama. Dessen authentische Perspektive hinter der Kamera und passende Besetzung vermitteln Ellas verliebte Gefühlsaufruhr und ihren unnachgiebigen Kampf um ihre Grundrechte auf Teilhabe, Bildung und Selbstbestimmung mit einer nicht nur im Jugendfilm außergewöhnlichen Lebensnähe.
Die Konfrontation mit der herben Realität öffnet Ella zugleich die Augen für ihre eigenen relativen Privilegien. Ihr Status als weiße wohlhabende Angehörige der Mittelschicht und die Fürsprache ihrer Eltern geben ihr Möglichkeiten, die für viele ihrer Mitbewohner*innen utopisch sind. Mit seltener Reflexion sieht sie sich nicht nur als Betroffene, sondern in der Verantwortung, nachhaltige Veränderung zu schaffen. Frei von naivem Optimismus, dafür mit umso mehr Engagement, ist die zeitaktuelle Story ein elementarer und unterhaltsamer Beitrag dazu.
Fazit
Mit Herz, sanftem Humor und systemkritischer Hintergründigkeit erzählt Mari Storstein von den süßen Eskapaden und bitteren Erkenntnissen ihres fiktiven Alter Egos. Deren Zwangslage zeigt eindringlich, wie behördliche Bevormundung und übergriffige Institutionen gehandicapten Menschen Autarkie und Chancengleichheit verweigern. Essenzielle Unterstützung wird zum Luxusgut erklärt, Übergriffigkeit als Fürsorge hingestellt, Einschränkung als Schutzmaßnahme gerechtfertigt. Von Produktionsstudios hörte die Regisseurin im Vorfeld des Drehs, für mehr Repräsentation von Menschen mit Handicap im Film fehle das Talent. Ihr Debüt beweist das Gegenteil.
Autor: Lida Bach