Inhalt
Nach einem Arbeitsunfall ist das Gesicht von Herrn Okuyama entstellt. Er muss einen Verband über den ganzen Kopf tragen. Als ein Arzt ihm anbietet, ihm ein neues Gesicht zu geben, eröffnet sich für Okuyama ein zweites Leben.
Kritik
Der Moviebreak Horroctober: 27.10.2015 (Geheimtipps)
27. Oktober 2015. Der vorletzte Geheimtipp des Monats stammt aus dem Reich der Sonne und blickt tief in die Seele der Gesellschaft.
Das japanische Gruselkino ist zumindest heutzutage eine Nummer für sich. Viele Zuschauer finden dort ihre Grenzen des seelisch Verkraftbaren, der Verfasser dieser Zeilen möchte sich da nicht von ausschließen. Es gibt einfach Dinge, die man nicht verarbeiten kann und Dinge, bei denen man sich einfach nicht erklären kann, wieso man sich so tierisch fürchtet. Der japanische Film hat jedoch eine lange und stolze Tradition und hatte schon in den 60ern eine großartige Blütezeit. Akira Kurosawa sorgte weiterhin für Aufmerksamkeit, Masaki Kobayashi schaffte mit „Kwaidan“ ein Werk, der von Legende Roger Ebert als einer der schönsten Filme überhaupt bezeichnet wurde. Und Hiroshi Teshigahara macht sich zwei Jahre nach seinem Kunstwerk „Die Frau in den Dünen“ auf, um einen bedeutungsvollen Gruselfilm zu drehen - „The Face of Another“.
Bei dem Film handelt es sich um den dritten Teil einer inoffiziellen Trilogie. Drei Filme des Regisseurs Teshigahara („Pitfall“, „Die Frau in den Dünen“ und dieser hier) entstanden als Adaptionen der Werke des Schriftstellers Kobo Abe, der auch an den Verfilmungen mitwirkte. Teshigahara, der als avantgardistischer Filmemacher gilt, erzählt hier von einer Nachkriegsgesellschaft, die jedwede Rationalität verloren zu haben scheint. „You can’t kill someone that’s already dead.“ sagt Okuyama (Tatsuya Nakadai, „Barfuß durch die Hölle“-Trilogie), der Protagonist des Films. In einem Unfall hat er sein Gesicht verloren. Wortwörtlich. Er ist entstellt, sodass er einen Verband um seinen gesamten Kopf tragen muss. Ein Umstand, der als Aufhänger der Geschichte dient und für Herrn Okuyama alles ändert. Existiert Mr. Okuyama noch oder ist er ein anderer? Ist er nicht nur noch eine groteske Version seiner selbst? Ist er überhaupt noch Mensch? Das Gesicht wird vom Regisseur klar als Zentrum der Kommunikation zwischen Menschen inszeniert und damit als einer der wichtigsten Teile des menschlichen Wesens.
Okuyama fragt sich, ob er sich den neuen Umständen anpassen muss oder die Welt sich an ihm. Anfangs noch zwingt er sein direktes Umfeld dazu, ihn anzusehen. Er zwingt sein Umfeld, sich mit ihm zu beschäftigen. Er nimmt es nicht hin, dass sie seinen Verband ignorieren und etwas beschämt so tun, als wäre alles wie immer. Das scheint ihm einer Beleidigung gleichzukommen. Etwa, weil das Leid, das er erleben musste, nicht als solches anerkannt, sondern totgeschwiegen wird. Einen Umstand, den man auch (wenn man denn so will) auf die Außenpolitik der Vereinigten Staaten gegenüber Japans nach den Atombomben-Abwürfen auf Hiroshima und Nagasaki übertragen kann. Eine Thematik, die nämlich totgeschwiegen wird. Kein Präsident hat sich jeher damit auseinandergesetzt, mit der Tat, die ein reiner Schwanzvergleich war. Die Weltkriegsthematik ist nicht allzu weit hergeholt und wird von Teshigahara oft, wenn auch nicht wortwörtlich, behandelt und angedeutet. Erst im Subplot, der immer wieder ohne (offensichtliche) Verbindung in die Szenerie eingeflochten wird, wird die Furcht vor einem erneuten Kriegsausbruch Bestandteil des Films.
Dieser Subplot behandelt die Geschichte eines Mädchens (Miki Irie), das ein makellos hübsches Gesicht hat. Wäre da nicht ihre rechte Wange, die arg vernarbt ist, was sie versucht, mit ihren Haaren zu verdecken. Die Narben, so wird angedeutet, stammen von eben jenen Atombombenabwürfen. Ihre Geschichte der Furcht, der Identitätslosigkeit und des duckmäuserischen Lebensstiles ergänzt das Leben von Okuyama bestens. Während er später nach außen hin zwei Leben führt, führt sie zwei Leben verdeckt in einem Körper. Sie wird begehrt und dann bemitleidet. Angehimmelt und angeekelt betrachtet. Sie muss sich verstecken. Der Film zeigt hier eine Gesellschaft, die in einer steten Angst vor dem Ende lebt, deren Alltag aus einer Todesfurcht besteht. Keine verlorene Generation, sondern eine verlorene Gesellschaft. Ihrer Zukunft beraubt, ihrer Identität beraubt. Denn ohne Menschen gibt es keine Identität einer Gruppe. Und Menschen scheinen hier nicht mehr zu leben, das wird nicht nur in der letzten Szene deutlich. Menschen waren einmal, sie sind aber mittlerweile entweder Schatten ihrer selbst oder Wesen, deren Identität instrumentalisiert wurde.
Wie oben angedeutet, bekommt Herr Okuyama nach einer Zeit die Möglichkeit, eine lebensechte Maske zu tragen, die ihm ein Leben abseits der Dunkelheit ermöglicht. Er bekommt das, was eigentlich unmöglich zu sein scheint: Er bekommt eine zweite Chance. Okuyama möchte mit seiner neuen Identität seine eigentliche „kompensieren“, sein Leben aufwerten und die Lücken der Welt schließen, die er mit seinem eigentlichen Leben nicht ausfüllen konnte. Sein anonymes Handeln garantiert ihm dabei juristische Immunität. Er muss keine Folgen oder Konsequenzen fürchten, weil es ihn (eigentlich) gar nicht gibt. Wo sind die Grenzen des Menschen, wenn sich die Person keiner Grenzen bewusst ist? Wo sind die Grenzen der Menschlichkeit? Ändert sich sein Ich, weil er anders aussieht? Muss er noch machen was er tat und lieben, wen er liebte? Und vor allem, da die Limitierung ein Hauptbestandteil des Menschen ist: Machen ihn die Umstände zu einem Übermenschen oder zu einem Monster?
Fazit
Der Regisseur Hiroshi Teshigahara hat mit „The Face of Another“ einen sehr subtile Groteske inszeniert. Die intelligenten Dialoge werfen mehrere Fragen auf, beantworten manche auf dem Weg zur nächsten und erschaffen so ein riesiges Gerüst aus Ansätzen und Ideen, Warnungen und Vorhersagen. Er lässt diesen existenziellen Diskurs zu einem Horrordrama werden, das seinen Grusel aus den stillen Vorstellungen und den sehr ruhigen und sehr präsenten Bildern ziehen kann. Ein Film, der den Horror der Wirklichkeit nach außen kehrt. Da hilft das interessante Spiel mit Raum und Gestalt (das hier teilweise seines gleichen sucht) und lässt aus einer teils surrealistischen Geschichte eine Parabel werden, die in vielerlei Hinsicht funktioniert. Zum Beispiel als Auseinandersetzung mit dem Verhalten des Menschen in der Anonymität des Internets.
Autor: Levin Günther