Inhalt
Sechs Monate, nachdem ihr einziges Kind während der Tsunami-Katastrophe in Thailand verschwand, glaubt Jeanne, den tot geglaubten Sohn in einem Video über obdachlose Kinder in Burma wieder zu erkennen. Gemeinsam mit ihrem Mann begibt sie sich auf eine Reise fernab der Zivilisation und landet inmitten eines heimtückischen Dschungels, der von verwilderten Kindern bewohnt wird, die keine Eindringlinge dulden. Denn wenn ein Mensch einen grausamen Tod stirbt, findet seine Seele keine Ruhe und wird böse. Das nennt man Vinyan.
Kritik
Der in Belgien geborene Regisseur Fabrice Du Welz (Message from the King) hat sich in der Filmbranche inzwischen einen Ruf herausgearbeitet, der vor allem für ein Publikum interessant ist, welches sich bereit erklärt, den Blick auch mal nach links und rechts zu richten, abseits der sich stetig reproduzierenden Gewohnheiten des Mainstream. Das Besondere an seinen Werken ist dabei, dass Du Welz sich eine gewisse Genre-Basis zu eigen macht, seine Filme aber entlang herkömmlicher Genre-Regeln inszeniert und so ganz eigene, oftmals verstörende Seherfahrungen entwirft, die sich nicht selten in das Gedächtnis des Zuschauer einfräsen. Nach Calvaire – Tortur des Wahnsinns, seinem polarisierenden Debütfilm, legte Du Welz vier Jahre später mit Vinyan nach – und erzielte das bis heute beeindruckendste Ergebnis seiner Karriere.
Vinyan gehört zu den Filmen, die für den Zuschauer schnell an ihrem fehlgeleiteten Marketing scheitern können, da dieses die Erwartungen schürt, Fabrice Du Welz würde sich hier für einen im Regenwald angesiedelten Geister(?)-Horror verantwortlich zeigen, in dem eine Horde Kinder mit finsteren Visagen ihr Unwesen treibt. Tatsächlich aber unterläuft Vinyan diese Vorausnahme von Beginn an und rückt mit Jeanne (Emmanuelle Beárt, 8 Frauen) und Paul (Rufus Sewell, Ritter aus Leidenschaft) ein englisches Ehepaar in den Mittelpunkt, welches mit dem Verschwinden ihres Sohnes zu kämpfen hat. Im Zuge der Tsunami-Katastrophe des Jahres 2004 ist dieser nämlich vom Erdboden verschluckt worden. Wie über 100.000 andere Menschen. Die Wahrscheinlichkeit, dass dieser tot ist, ist dementsprechend hoch, bis Jeanne ihren Sprössling auf einem Videoband unter burmesischen Kindern zu erkennen glaubt.
Mit der Unterstützung der Tirade und Seezigeunern brechen Jeanne und Paul in das Innere der burmesischen Wildnis auf und finden einen Dschungel vor, der – frei nach Werner Herzog (Aguirre, der Zorn Gottes) vor allem als Seelenlandschaft fungiert. Je tiefer das Paar in das Herz der Finsternis vordringt, desto extreme passt sich die Natur dem Gemütszustand der beiden Suchenden an. Vinyan manifestiert sich zusehends als nonkonformistischer Fiebertraum, der Allgemeinplätze des Horrorfilms kategorisch ablehnt, sich stattdessen auf das innerseelische Drama seiner Protagonisten (vor allem Jeanne) einlässt und dieses über die bildgewaltigen Eindrücke des Urwaldes zum Ausdruck bringt. Im peitschenden Monsunregen, in der drückenden Schwüle und irgendwann in der Orientierungslosigkeit. In Urängsten, die sich in jedem Blatt und in jedem Zweig des symbolbehafteten Dickichts eingeschrieben haben.
Vinyan fokussiert sich ganz und gar auf die Psychologie seiner Charaktere und versteht sich als introspektiver Blick in einen Zustand tiefer Zerrissenheit. In elegischen, kontemplativen Bild- und Klangwelten treibt Vinyan immer tiefer in einen von Trauer getriebenen Wahnsinn, der sukzessive verdeutlicht, dass Jeanne und Paul gar nicht mehr darauf aus sind, ihren Sohn zu finden, sondern nur nach einer Möglichkeit, ihre Schmerzen zu lindern. Fabrice Du Welz baut in seinem Narrativ immer wieder auf Interpretationsfreiräume, formuliert Gedanken nicht aus, sondern weiß um die Kraft der Stille. Die Kraft der Bilder. Vinyan aber haftet sich nicht nur als sensorisches Erlebnis innerhalb seines Publikums fest, sondern vor allem als Erkenntnis, dass es Eltern niemals möglich sein kann, sich ein Bewusstsein für den Tod ihres eigenen Kindes zu schaffen.
Fazit
Fabrice Du Welz auf dem Höhepunkt seines Schaffens. In zuweilen meisterhaften Bild- und Tonmontagen vollbringt der Belgier es, die innerseelische Zerrüttung seiner Protagonisten über die archaische Kulisse des Dschungels zum Ausdruck zu bringen, den "Vinyan" als eine Art Seelenlandschaft versteht. Eine verstörende, suggestive Grenzerfahrung, die zur Mehrfachsichtung einlädt.
Autor: Pascal Reis