MB-Kritik

Wenn einer von uns stirbt, geh ich nach Paris 2009

Documentary – Germany, Netherlands

Michel Haebler
August Diehl
Suzanne von Borsody

Inhalt

Am Anfang steht ein Selbstmord. Eine Frau vergiftet sich, und ihre Familie verharrt im Schock. Keiner stellt Fragen. Nur dem jüngsten Sohn lässt das keine Ruhe. Als er zu fragen beginnt, drückt sich ein finsteres Kapitel der Familiengeschichte an die Oberfläche. Aus hinterlassenen Tagebüchern, Briefen, Akten aus einem Kinderheim und vielen Gesprächen montiert Filmemacher Jan Schmitt eine außergewöhnliche Dokumentation. Es geht um Verdrängung, Lügen, Religion und Beichte, die das große Schweigen über sexuelle Gewalt in der eigenen Familie begünstigt haben. Als Jan Schmitts Film 2009 in die Kinos kam, war er seiner Zeit voraus. Ein Jahr später brach in Deutschland ein Sturm der Entrüstung aus über systematischen Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche und staatlichen Einrichtungen.

Kritik

Jan Schmitts intimes Filmdebüt beginnt und endet mit einem schmerzvollen Fazit: „Gott schaute weg. Immer wieder“ Es stammt von Schmitts Mutter Mechthild, deren Lebensumstände keineswegs so heiter waren, wie es der verspielte Titel vermuten lassen könnte. 1996 nahm sich Mechthild Schmitt mit einer Tablettenüberdosis das Leben. Ihr Selbstmord lässt ihre erwachsenen Sohn, nunmehr Fernsehjournalist, und die Angehörigen nie mehr los. Dreizehn Jahre nach dem Freitod verfolgt Schmitt den Weg der Mutter zurück. Seine stilistisch verbesserungswürdige Filmskizze fokussiert zulasten anderer relevanter Aspekte die erdrückende Last kollektiven Schweigens. 


Den Suizid der zentralen Figur der Mutter will erst niemand wahrhaben. Das Verleugnen scheint ein Automatismus, den die Eltern an Mechthilds Geschwister weitergegeben haben. Es lässt sich nur vermuten, wie viel Mühe und Zeit es brauchte, um die von der Kamera festgehaltenen Berichte zu erlangen. Schmitt befragt die Schwestern, Freundinnen und Kolleginnen seiner Mutter. Zuerst motiviert ihn der Wunsch, den Selbstmord nachzuvollziehen. Es fallen die stereotypen Sätze über Selbsttötung. Niemand habe etwas geahnt, es sei für alle ein Schock. Kindheitsfotos von Mechthild zeigen hingegen ein isoliert und bedrückt wirkendes Mädchen. In der mütterlichen Biografie, die Schmitt laienhaft ergründet, wird das Wort „milieugeschädigt“ zum entscheidenden Hinweis. Die Ursache für Mechthilds Verzweiflung lag im Verhältnis der Familie zur Kirche begründet. In alten Amtsberichten und Gutachten gelangt der Filmemacher an einen menschlichen Abgrund. Jahrelang wurde seine Mutter als Kind missbraucht von einem Pater, mit dem Mechthilds verheiratete Mutter eine Affäre hatte. Die Schuld dafür wurde dem Kind gegeben. Neben den traumatischen Erinnerungen scheint es diese Indoktrinierung eines Vergehens vor Gott, dass Mechthild zeit ihres Lebens verfolgte und schließlich in den Tod trieb. 


Wie in den meisten Fällen von sexuellem Missbrauch wussten damals beide Eltern darüber Bescheid. Ob es ihnen gleichgültig war oder sie eine sadistische Freude an dem Leid ihres Kindes hatten, so tief gräbt Schmitt nicht. Vielleicht will er den Zuschauern diese Unmenschlichkeit nicht zumuten, vielleicht kann er selbst diese Fakten über seine Großeltern nicht ertragen. In Tonbandaufzeichnungen psychiatrischer Gespräche hört man die Stimme der Toten, die von ihren Erlebnissen berichtet. Ebenso verstörend wie die Verbrechen selbst ist das Schweigen der Familie und der Kirche, die einmal mehr nicht zur Verantwortung gezogen wurde. Tagebuchauszüge und nachgespielte Szenen ergänzen die Interviews mit Hinterbliebenen. Gott, der wegsah, waren die Eltern, die Gemeinde, die Kirche. Am unheimlichsten ist, dass die übrigen Familienmitglieder der Betroffenen weiterhin an ihrer religiösen Überzeugung und der Institution festhalten. Ein Satz hallt besonders lange nach: “Es gab keine Aggressionen” Die Aggressionen des Opfers gegen sich selbst zählen nicht. “Sollte ich noch einmal missbraucht werden, töte ich”, schrieb Mechthild in ihr Tagebuch. Sie hat ihre Worte wahr gemacht und getötet: sich selbst.

Fazit

Unbelehrbarkeit ist der niederschmetternde Schlusspunkt des tragischen Lebensrückblicks, der in seiner schonungslosen Offenheit schwer zu ertragen ist. Ganz auf die familiäre Thematik konzentriert, versäumt es der Regisseur jedoch, die Gefahren der manipulativer Heilslehren und die Verbrechen der Kirche sowie deren Vertuschung in einem größeren Kontext aufzuzeigen.

Autor: Lida Bach
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