Inhalt
Nach seinerGefängnisentlassung versucht Ali mühsam, in Teheran wieder Fuß zufassen. Er nimmt eine Anstellung als Nachtwächter an, um seineFamilie ernähren zu können. Als seine Frau und seine Tochter beieinem Schusswechsel zwischen Polizei und Demonstranten währendöffentlicher Unruhen versehentlich getötet werden, hat Ali nichtsmehr zu verlieren. Er tötet zwei Polizisten und flüchtet in dieWälder. Er wird schnell gestellt und wieder verhaftet. Doch damitist die Jagd noch nicht zu Ende.
Kritik
Der eigentliche Titel von Rafi Pitts iranischem Neo-Noir ist „Shekarchi“ - der Jäger. Nahezu alle Figuren sind Verfolger in dem erschütternden Drama. Doch niemand mehr als der vom Regisseur selbst verkörperte Hauptcharakter. Er ist zugleich ein Gejagter, verfolgt vom Gedanken nach Rache und der unvermittelten Zerstörung seiner Existenz. Allein geht der Ex-Sträfling Ali (Pitts) auf die Pirsch in den Wald. Aber er schießt nicht. Gewalt erfährt er genug. Unsichtbar versteckt sie sich in den unerbittlichen Machtstrukturen in Teheran, ist immer spürbar in den gesellschaftlichen Zwängen des repressiven Staatssystems. Um seine Frau Sara (Mitra Hajjar) und die kleine Tochter Saba (Saba Yaghoobi) durchzubringen, arbeitet Ali im Nachtdienst. Eines Tages findet er die Wohnung leer vor. Auf der Polizeistation erfährt er, dass beide in einem Schusswechsel zwischen Systemgegnern und der Polizei getötet wurden. Wieder geht Ali auf die Jagd, auf Menschenjagd.
Die graue Betonwüste der iranischen Hauptstadt ist das städtische Spiegelbild der umliegenden Waldeinsamkeit. Kein Versteck existiert in der kalten Steinlandschaft, durch die Ali wie ein rastloses Tier streift. Wie Ameisen bewegen sich die Menschen in den Straßen, Frauen in dunklen Gewändern, Männern in gedeckter Kleidung. Einzig die Kinder bringen Farbe in die Tristesse. Als er nach dem Verschwinden seiner Familie durch die Stadt zieht, erscheinen Ali andere kleine Mädchen wie Gespenster der verlorenen Tochter. Nur eine Handvoll Sätze spuckt Pitts Charakter aus. Dennoch bleibt sein irrationaler Gewaltausbruch beklemmend nachvollziehbar. Das karge Drama zerredet die Tragödie nicht, es spricht in Bildern von suggestiver Eindringlichkeit. Die Lebensumstände der Figuren werden zur Allegorie sozialer und politischer Unterdrückung. „Sie sehen einander nicht viel“, kommentiert ein Polizeibeamter Alis Familienverhältnisse, bevor er die Todesnachricht überbringt. Die kaltherzigen Worte sind vorwurfsvoll, als sei Ali durch seine Abwesenheit verantwortlich für den Tod seiner Familie. Ali lächelt nie, doch bei Sara und der kleinen Tochter strahlt der kälteste unter den Protagonisten tiefe menschliche Wärme aus.
Für Sara lädt er an einer Rummelplatzbude das Gewehr nach. Da ist das Schießen noch ein Spiel, doch die Gewalt lauert unter der Oberfläche und wartet nur darauf, hervorzubrechen. Sie wurzelt in sozialen und staatlichen Autoritätsstrukturen. Das Individuum schrumpft in dem repressiven System zur Bedeutungslosigkeit. Zu Beginn hört Ali aus dem Autoradio die Stimme des Machtapparats: „Ihr habt keine Wahl. Ihr müsst euch ändern“. Statt eines positiven Wandels kündigt die Ansage neue Zwänge an, die das bestehende Staatsgefüge zementieren. „Ich habe keine Wahl“, sagt ein Polizist zu Ali. Im Rahmen seiner Wehrpflicht muss der Beamte die Uniform tragen. Die Uniform macht ihn zu Jäger, einem Wolf, wie ihn Alis Tochter in einem Kindertrickfilm zwei Schafen auflauern sieht. Die Schafe versinnbildlichen ihre Mutter und sie: zufällige Opfer, unter die Wölfe gefallen. Bevor der Tod sie trennt, halten materielle Zwänge Ali von seiner Familie fern. Nur leise angedeutet wird die Armut der Protagonisten umso eindringlicher fühlbar.
Fazit
Der Amoklauf des Protagonisten erscheint in seiner Präzision und Ruhe als unvermeidliche Konsequenz des unterschwellig allgegenwärtigen Terrors. Der vielschichtige Thriller setzt die persönliche Tragödie in den Kontext eines übermächtigen sozialpolitischen Systems und zeichnet sich gleichermaßen durch politischen Zeitbezug wie dramatische Intensität aus.
Autor: Lida Bach