Erwähnungen
Martyrs [2008] - Levins Meinung
Von Souli in Bilder des Zerfalls: Im Klammergriff der Kontroverse - Teil 12
am Mittwoch, 27 Januar 2016, 16:13 Uhr
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Häufig geschieht es, dass Filme sich nicht klar einem Genre zuordnen lassen. Ein wichtiger Punkt bei der Kategorisierung ist immer wieder das Setting, also der Ort, an dem sich die Handlung abspielt. Mittels Setting lassen sich Western, Eastern, Science-Fiction-Filme, der Film Noir und weitere Genres klar definieren. Zwei Ausnahmen gibt es jedoch, zwei Genres, deren Filme keine klare Formalie benötigen, sondern die sich nur über die Wirkung auf den Zuschauer definieren lassen. Die Komödie und der Horrorfilm. Grundvoraussetzung für jede Komödie ist es, den Zuschauer zum Lachen zu bringen, für den Horrorfilm ist es, Spannung und Grusel zu erzeugen. In Deutschland, wo der Filmmarkt ganz klar von Hollywood dominiert wird, ist man gewohnt, Horrorfilme zu sehen, die dem Zuschauer einen stringenten Ablauf anbieten, eine klare Moral (sei sie noch so ausgelutscht) und vor allem ein Besiegen des Bösen, damit man danach auch sorgenfrei aus dem Kino gehen kann. Was aber, wenn ein Film sich dem widersetzt und mehr als das will? Dann brennt die Hütte.
Der Franzose Pascal Laugier hat mit „Martyrs“ im Jahr 2008 einen Film abgeliefert, der jegliche Grenzen gesprengt hat. In Frankreich, einem Land das äußerst(!) liberal handelt, was Altersfreigaben von Filmen angeht („Kingsman“ zum Beispiel hatte keine Altersbeschränkung), bekam Lugiers Film keine Jugendfreigabe und hätte deshalb nur in Erwachsenenkinos (man könnte auch „Schmuddelkinos“ sagen) vorgeführt werden dürfen. Das ist in der französischen Filmgeschichte noch nie passiert, weshalb die Produzenten einmal mehr die Freigabestelle freundlich fragten, ob sie bitte mit dem Film Geld verdienen dürften, woraufhin der Film eine Freigabe ab 16 bekam. In Deutschland hat der Film keine FSK-Freigabe bekommen und selbst die SPIO hat den Film als schwer jugendgefährdend eingestuft. Und als würde das nicht reichen, polarisiert der Film sein Publikum auf extreme Weise. Die einen verehren den Film als genialen Genre-Beitrag mit philosophischem Hintergrund, die meisten aber wenden sich angewidert ab und attestieren dem Film strunzdumme Gewaltgeilheit. Als normalen Horrorfilm sieht den Film anscheinend niemand.
Aber wie steht es denn nun um den Angeklagten? Kein Zweifel, „Martyrs“ ist ein unerträglich brutaler Film, ekelhaft, anwidernd, belastend, eine anderthalbstündige Tortur. Ein Torture Porn also? Nicht wirklich, der Film von Laugier verneint jegliche Subgenre-Zugehörigkeit, streift alles mal ein bisschen und geht immer wieder Wege, die ihm selbst passen. Home Invasion, Rape-and-Revenge, Psycho-Thrill, Torture. Das sind viele kleine Teilchen, die hier vereint werden; diese Ambivalenz ist aber Programm des Films. Das ganze Werk besteht aus Drehungen, Kontrasten und verspiegelten Einheiten. Das fängt bei den Darstellerinnen der Charaktere an (die jungen und älteren Versionen scheinen verwechselt worden zu sein) und hört beim Ende des Films an, dass gleichheitlich in die eine oder andere Richtung interpretiert werden kann, ohne dass sich eine offensichtlich richtige Version dem Zuschauer offenbart. Generell bleibt der Film sehr vage, was seine Intention anbelangt, bietet dem Publikum wenig, vor allem keinen Platz zur Entfaltung.
Schon kurz nach dem dokumentarisch gehaltenen Vorspann steht Lucie an dem Ort ihrer Freiheit; dem Haus ihrer Peiniger. Zitternd, ihr Gesicht verschmiert mit einer Mischung aus Tränen und Blut, steht sie im Federregen eines Schlafzimmers. Sie ermordet die ganze Familie, die Eltern und beide Kinder, die gerade erst volljährig geworden sind und nun vor dem stehen würde, was Lucie nie haben konnte. Der Sohn (gespielt von Regisseur Xavier Dolan) ist dabei Lucie nicht unähnlich. Auch er führt kein Leben das er will, keines, das von Freiheit geprägt ist. Auch er wird von seinen Eltern gepeinigt, auch ihm wird sein Leben genommen. Erst von seinen Eltern dann von Lucie. Die Wucht ihrer Shotgun reißt seinen zerfetzten Körper bis ins Nebenzimmer. In diesen recht konventionellen Momenten (konventionell im Sinne von bekannt aus anderen Filmen) wird bereits der Konflikt deutlich, den Lucie durchleidet. Sie schlägt sich gegen den Kopf, weil die Gedanken des Hasses nicht enden wollen. Wenig später wird sie ihren Kopf mehrfach gegen die Wand schlagen, aus dem gleichen Grund.
Tatsächlich bietet „Martyrs“ in seiner Laufzeit von 90 Minuten nicht auch nur zu einer Sekunde eine Zeit der Entlastung. Der Film beginnt im Terror, macht ebenso weiter und hört damit nicht auf. Auch nicht, wenn der Abspann auftaucht, denn bis dahin hat der Film längst seine kalten Gedanken dort eingeführt, wo sie nicht entkommen können; im Kopf des Zuschauers. Diese atemlose Panik hat einen derart starken Effekt auf den Zuschauer, eben weil ihm keinerlei Platz gelassen wird, weil der Film keinerlei Zugeständnisse macht. Die Befreiung des einen ist die Gefangenschaft des anderen. Die Erlösung der anderen, der Angriff auf den Zuschauer. Das kann man getrost als fordernd bezeichnen. Oder als geschmacklos, überzogen gewalttätig, unmenschlich. Mit allem wird man recht haben. Gewaltverherrlichend aber ist der Film ganz und gar nicht. Und in der Betrachtung dessen fällt auf, wie wichtig es ist, die gängige Rezeption des Films in seine Bewertung mit einzubeziehen.
Während Subgenres wie der moderne Torture Porn oder Rape-and-Revenge-Film nämlich eine große Faszination aus der Gewaltdarstellung zu entfalten versuchen, bewirkt „Martyrs“ auf spektakuläre Art und Weise das Gegenteil. Der Film greift sich den Zuschauer, zwingt ihn dazu, sich den Geschehnissen hinzugeben und stoppt auch nicht, wenn er das Publikum schon lange in die Knie gezwungen hat. Dementsprechend kann man den Anfang des Films, der wie beschrieben eher konventionell in seiner Gewalt agiert, als These des gängigen Horrorfilms ansehen und alles, was danach geschieht, als Antithese. Als eine Art Wachrütteln des Zuschauers, während es dabei zusieht, wie Anna immer wieder zur Bewusstlosigkeit geprügelt wird. Man könnte den Film, der im übrigen nie wieder so grafisch wird, wie er es zu Anfang ist, als groteske Übertreibung zu Zwecken der Vereinfachung eines Sachverhaltes verstehen. Der Sachverhalt wäre dabei die Konfrontation des Horrorpublikums mit ihrer seltsamen Faszination des Voyeurismus.
Ab der Hälfte, wenn der Film einen „Psycho“-artigen Twist vornimmt, gelingt ihm einen seiner größten Erfolge, der dem Film ironischerweise am häufigsten vorgeworfen wird. Der faszinierende Voyeurismus, die faszinierende grafische Gewalt vieler Horrorfilme sind hier derart nihilistisch und erbarmungslos überzogen, dass selbst erfahrenere Zuschauer überfordert sein werden. Ich schäme mich nicht zuzugeben, inmitten dieser ekelhaften Welt kurz weggeguckt zu haben, um mich zu sammeln und meiner Seele eine Pause zu gönnen. Der Erfolg liegt darin, dass dem Zuschauer die Gewalt tatsächlich deutlich gemacht wird, dass sie kein Spaß, kein Schauwert ist. Sondern die hässlichste Fratze des Menschen. Die gesunde Reaktion des Zuschauer, sich gegen den Film zu wehren und und seine Gewalt nicht gutzuheißen ist dabei wohl die Intention des Films. Denn wenn der Filmzuschauer sich bewusst gegen die gezeigte „Zerstörung“ richtet, dann verschließt er sich dem Martyrium. Heißt: Die ablehnenden Reaktionen so vieler Zuschauer ist der richtige Weg. Er ist aber nicht - wie fälschlicherweise von jenen Zuschauern angenommen - als Schwäche, sondern als Stärke ihrerseits zu betrachten.
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