Am 17. Mai ist es endlich soweit: Für 11 Tage erscheint das Reichen-Resort an der Côte d’Azur auf der Landkarte und öffnet seine Toren einer eklektischen Elite Filmschaffender und der obligatorischen Presseschar. Unter dieser gestressten Gruppe sind wieder wir von Moviebreak, um für Euch live vor Ort Einblicke ins Festivalgeschehen und Kritiken der cineastischen Highlights zu liefern. Dieses Jahr zum Glück ohne tagesaktuelle Tests, Maskenpflicht und der kartengebundenen Platzzuweisung, die 2021 dank kollektiven Presse-Protests gekippt wurde. Für eine ähnliche Aktion fehlte auf der diesjährigen Berlinale trotz Initiative der Gemeinschaftsgeist.
Das kleine Intermezzo ändert natürlich nichts an den konservativen Strukturen, mit denen das Renommee des prestigeträchtigsten europäischen Filmfestivals verwachsen ist. Von den 21 Filmen, die um die Goldene Palme konkurrieren, sind gerade mal vier von Regisseurinnen (plus eine Co-Regie-Arbeit). Was auf praktisch jedem anderen Festival als peinlich rückständig angesehen würde, ist in Cannes rekordverdächtig. Die stolz verkündete Umbenennung des Programmkinos Salle du Soixantième in “Salle Agnès Varda” zu Ehren der 2019 verstorbenen Mitbegründerin der Nouvelle Vague scheint da herbe Ironie. Passend dazu ersteigt auf dem Festival-Poster ein weißer Mann eine Treppe gen Himmel.
Vielleicht haben die Graphic Designer der plakat(ive) Truman Show Hommage einfach zu viel Led Zeppelin gehört. Der Festival-Kommentar dazu, der ein Revival beschwört, verrät jedenfalls eine Spur Süffisanz angesichts der Programm-Prävalenz alter Bekannter und Dauergäste. Auch in Cannes zählen Klüngeln und Connections wohl mindestens so viel wie Können. Dafür macht der gewohnt frankophile Wettbewerb mit Crimes of the Future von Body-Horror Spezialist David Cronenberg (Maps to the Stars), Ali Abbasis (Border) Horror Thriller Holy Spider sowie Michel Hazanavicius’ (The Artist) außer Konkurrenz gezeigter Horror Comedy Final Cut erfreulich viel Raum für auf Festivals notorisch gemiedene Genre-Werke.
Dass ein solches - obendrein von einer Regisseurin - letztes Jahr den Hauptpreis gewann, allerdings für eine geradezu sklavisch konventionelle Perspektive, ist charakteristisch für die strategische Ambivalenz eines Festivals, das Avantgarde sein will, aber für den Mainstream schwärmt und selbst fortschrittliche Entscheidungen im Dienste des Traditionalismus trifft. Ob die neunköpfige Jury unter Jury-President Vincent Lindon (Titane) ein bisschen an der Verkrustung kratzt wie Spike Lee (Da 5 Bloods) im vergangenen Jahr? Die nächsten elf Tage werden es zeigen. Wir stürzen uns für euch ins cinephile Chaos und liefern euch eine schillernde Auswahl an Kritiken mit Fokus - na klar - auf den Wettbewerb.
Die offizielle Übersicht der Wettbewerbsfilme findet ihr hier.