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Cannes 2023 - Eröffnungsbericht

PatrickFey

Von PatrickFey in Cannes 2023

Cannes 2023 - Eröffnungsbericht

Für all jene, denen das Weltkino am Herzen liegt, sind dies die wohl aufregendsten zwölf Tage des Jahres — so auch für die Moviebreak-Redakteur*innen Jakob, Lida und Patrick. Wenn sich im Mai einmal mehr alle Blicke gen Cannes richten, auf die zwei Kilometer spannende Promenade „la Croisette“, findet sich in einmaliger Dichte die höchste Riege der internationalen Auteur*innen für den Wettkampf um die Palm d’Or zusammen. Kompetitiv im engeren Sinne geht es dort indes nur selten zu, zu sehr ist allen Beteiligten bewusst, dass der Erfolg der Konkurrenz immer auch das Potenzial birgt, auf das eigene Werk abzustrahlen und dem Kino, dem permanent der Krisenstatus diagnostiziert wird, Konjunktur zu bereiten. Der zweifelsohne größte Titel des Festivals, Martin Scorseses Apple-produzierter Killers of the Flower Moon, scheut jene Konkurrenz und findet sich, obwohl bis zuletzt kolportiert wurde, der Filme könne durch einen Meinungswechsel noch in den Wettbewerb nachrücken, außerhalb der Konkurrenz. Freilich ändert diese strategische Entscheidung Apples nichts daran, dass Scorseses Buchadaption Killers of the Flower Moon — ein weiteres Alterswerk in der Vita der langjährigen Weggenossen Martin Scorsese (80) und Robert de Niro (79) — der wohl meisterwarte Film des Festivals ist, was sich nicht zuletzt darin äußert, dass ihm der begehrteste Slot des Festivals am Samstagabend zugesprochen wird.

Killers of the Flower Moon  ©Apple


Der Wettbewerb

Doch auch ohne Scorsese finden sich einige Altmeister im Rennen um die begehrteste Trophäe des internationalen Arthouse-Kinos. Marco Bellocchio (83; Mit der Faust in der Tasche, Il Traditore), etwa, in dessen historischem Drama sich eine jüdische Familie sich gegen den Vatikan stellen muss, um ihren Sohn zurück nach Hause zu holen. Wie Bellocchio wartet auch der finnische Filmemacher Aki Kaurismäki (The Match Factory Girl) noch auf seine erste Goldene Palme. Kaurismäki, von dem es einst hieß, sein 2017 mit dem Silbernen Bären für die beste Regie ausgezeichneter Die andere Seite der Hoffnung sei vermutlich sein letzter Film, wartet nun mit dem, wie es heißt, verloren geglaubten vierten Teil seiner Working-Class-Trilogie Fallen Leaves auf. Wie dem Pressematerial zu entnehmen ist, haben wir es hier abermals mit einer Tragikomödie zu tun, die sich durch den Kaurismäki-eigenen, trockenen Humor auszeichnet.

Mit Wim Wenders und Ken Loach finden sich zudem zwei weitere ältere Herren im Teilnehmerfeld, denen die Ehre des Hauptpreises in der Vergangenheit allerdings bereits zuteil wurde. Wim Wenders (77), der 1984 für Paris, Texas die Palm d’Or gewann, präsentiert dieses Jahr gleich zwei Werke an der Côte d'Azur: den als Séance Spéciale außer Konkurrenz laufenden Dokumentationsfilm Anselm, ein Porträt des Künstlers Anselm Kiefer, für das Wenders zur 3D-Technologie zurückkehrt, sowie der im Wettbewerb konkurrierende und in Japan gedrehte Perfect Days, der in seinem Fokus auf Introspektion und das einfache Leben beinah wie ein geistiger Verwandter zu Jim Jarmuschs Paterson anmutet. Und wer von Altmeistern in Cannes spricht, darf freilich vom zweimaligen Palm-d’Or-Gewinner Ken Loach (86; The Wind that Shakes the Barley; I, Daniel Blake) nicht schweigen. Nachdem er zuletzt in Sorry We Missed You von den ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen der meist außertariflich für Subunternehmen tätigen Lieferfahrer erzählte, richtet er in The Old Oak seinen Blick auf eine Bergwerksgemeinde, die bereits seit Dekaden an einer anhaltenden Rezession leidet. Die eponyme Old Oak, der lokale Pub, figuriert hier als kulturelles Zentrum und letzte gemeinsame Begegnungsstätte einer Gemeinde, deren Fortdauern ihre Mitglieder durch die Ankunft syrischer Geflüchtete bedroht sehen.

The Old Oak ©Studiocanal Uk

Ob sich Loachs konsequenter sozialer Realismus auch in einer rekordträchtigen dritten Auszeichnung auszahlen wird, bleibt abzuwarten, beweist die Preisverleihung am Ende eines jeden Festivals doch Jahr für Jahr aufs Neue, dass die Wege der Jury unergründlich sind. 2021 etwa, als unter der Juryleitung Spike Lees, der tollpatschigerweise den Gewinnerfilm Titane bereits zu Beginn der Zeremonie als solchen benannte und der Verleihung damit sämtliche Spannung entzog, brachte in Julia Ducournau eine Wettbewerbsdebütantin hervor. Im Vorjahr hingegen verlieh die Jury um Präsident Vincent Lindon die Palm d’Or zum zweiten Mal an Ruben Östlund, dessen Triangle of Sadness die Festival-Saison bis zur Oscarnominierung (u.a. als bester Film) erfolgreich durchmarschierte. Jenem Östlund fiel es nun zu, der diesjährigen Jury vorzustehen, die aus den 21 ausgewählten Titeln die Gewinnerfilme zu küren hat.

In der von Festivalleiter Thierry Frémaux und seinem Team getroffenen Selektion finden sich historisch erstmals sieben Frauen wieder — was, obgleich lediglich ein Drittel, traurigerweise einen weiblichen Rekordanteil darstellt. Dass bei der ersten Pressekonferenz zum Festival-Lineup zunächst nur sechs Frauen auftauchten, hatte mit der Berichterstattung zu Catherine Corsinis Le retour zu tun, dem die finanzielle Unterstützung bestimmter Geldgeber entzogen wurde, weil eine nicht mit allen Produzenten abgesprochene Sex-Szene (einer minderjährigen Person) ihren Weg in den Film fand. Die zudem von namenlosen Quellen vorgebrachten Anschuldigungen missbräuchlichen Verhaltens am Set erhärteten sich allerdings nicht, und die genannte Sexszene kommt zudem ohne jedwede Form von Nacktheit aus. Ähnlich für Gesprächsstoff dürfte Catherine Breillats L’été dernier sorgen, behandelt dieser doch, wie bereits mehrere ihrer vergangenen Filme, eine Affäre zwischen einer jugendlichen und einer erwachsenen Person. 

Mit Hochspannung wird derweil Jonathan Glazers A24-produzierter The Zone of Interest, Glazers ersten Spielfilm seit seinem gefeierten Under the Skin vor genau zehn Jahren. In der losen Adaption des gleichnamigen Romans des britischen Schriftstellers Martin Amis, in dem ein Nazi-Offizier sich in die Frau des Kommandanten (Sandra Hüller) des Vernichtungslagers Auschwitz verliebt. Glazers Filme tendieren dazu, gleichsam zu faszinieren wie unangenehm zu berühren, und The Zone of Interest, der 2021 in Auschwitz gedreht wurde, dürfte in dieser Hinsicht keine Ausnahme markieren.

Auf andere Weise ähnlich düster mutet Justine Triets Anatomie d’une chute an, ein Gerichtsdrama, in dem abermals Sandra Hüller, auf unbekannte Weise in einen häuslichen Homizid verwickelt ist. In einem womöglich kaum größer denkbaren atmosphärischen Kontrast zu Glazer und Triet dürfte Wes Andersons Asteroid City daherkommen, in dem der gebürtige Texaner einmal mehr einen Überfluss an Stars aufbietet, der seinesgleichen sucht (u.a. Tom Hanks, Scarlett Johansson, Jason Schwartzman, Hong Chau, Margot Robbie, Willem Dafoe, Jeffrey Wright, Tilda Swinton).

Asteroid City © Universal Pictures

Das übrige Lineup bietet einige alte, mehr oder weniger bekannte: Freuen dürfen wir uns auf Alice Rohrwachers La Chimera, die nach dem oscarnomminierten Kurzfilm Le Pupille aus dem Vorjahr den ersten, eigens inszenierten Spielfilm seit dem viel beachteten Happy as Lazzaro vorlegt. Darf man den bisher veröffentlichten Materialien Glauben schenken, so wird auch La Chimera die klaren Grenzen zwischen Leben und Tod in Frage stellen. Neben Rohrwacher gesellen sich noch die Cannes-Dauerabonnenten Nanni Moretti, dessen A Brighter Tomorrow gleichsam Metareflexion und Liebesbrief an das Kino zu sein verspricht und Hizokazu Kore-eda mit Monster, seinem ersten japanischen Spielfilm seit seinem Palm-d’Or-Gewinner Shoplifters 2018, sowie  der türkische Auteur Nuri Bilge Ceylan, der mit About Dry Grasses ein abermals überlanges Epos in weiten Landschaften andeutet. Wer über Cannes-Abonnenten spricht, kommt auch schwerlich ohne den Namen Sean Penn aus, immerhin ein langjähriger Freund des Festivalleiters Frémaux, der in Jean-Stéphane Sauvaires (A Prayer Before DawnBlack Flies den erfahrenen Notarztsanitäter an der Seite Tye Sheridans spielt.

Erweitert wird die Wettbewerbsauswahl zusätzlich von Karim AïnouzFirebrand, der uns zurück zur Zeit der Herrschaft der Tudors führt und dafür mit Jude Law und Alicia Vikander aufwartet, Todd Haynes, über dessen Ehedrama May December erstaunlich wenige Informationen durchgesickert sind, Wang Bings Youth (Spring), dem einzigen Dokumentarfilm des Wettbewerbs, dem durch The Scent of Green Papaya bekannten französisch-vietnamesischen Hùng Tran Anh und dessen The Pot-au-feut, in dem sich Benoit Magimel und Juliette Binoche sich durch das Kochen besser schätzen lernen, sowie Jessica Hausners Club Zero, dessen andeutungsvolle Beschreibung einen twistartigen Thriller erwarten lassen.

Die vielleicht am schwierigsten abzuschätzenden Wettbewerbsfilme stellen  die tunesische Filmemacherin Kaouther Ben Hania (The Man Who Sold his Skin) und die senegalesische Filmemacherin Ramata-Toulaye Sy, die einzige Spielfilmdebütantin im Cannes-Wettbewerb. Kaouther Ben Hania erforscht in Four Daughters die performativen Grenzen des menschlichen Miteinanders, als sie einer Mutter, deren zwei ältesten Töchter verschwinden, zwei Schauspielerinnen zur Seite stellt, die die Leerstellen innerhalb der Familie füllen sollen — eine Prämisse, die wagemutiges Metakino verspricht. In Ramata-Toulaye Sys Banel & Adama müssen die titelgebenden Protagonist*innen ihre Liebe zueinander innerhalb einer regressiven Gesellschaft verhandeln, die kein besonderes Interesse an ihrem gemeinsamen Glück hat.

Club Zero ©BAC Films

Die restlichen Sektionen

Natürlich sind dies nur die Wettbewerbsfilme, und die vergangenen Jahre haben wiederholt deutlich gemacht, dass es auch in Cannes lohnt, die weiteren Sektionen (Un Certain Regard, Quinzaine des Cinéastes, Semaine de la Critique, ACID, Cannes Premiere u.a.) gründlich zu studieren. Charlotte Wells Aftersun etwa, einer der meistgelobten Filme 2022, feierte im Vorjahr seine Premiere in der Semaine de la Critique, und Riley Keoughs and Gina Gammells War Pony sowie Davy Chous Return to Seoul sind nur zwei Beispiele weithin geschätzter Filmes des Vorjahres, die in Un Certain Regard ihre Weltprämiere feierten.

Es gilt daher auch dieses Jahr alle Augen und Ohren offen zu halten, nicht nur nach altbekannten (auch wenn sich mit Steve McQueens Mammutprojekt Occupied City, Victor Erices Close Your Eyes oder Takeshi Kitanos historischer Samurai-Film Kubi, um nur drei zu nennen, interessante Filme nahezu aufdrängen), sondern auch nach neuen: Molly Manning Waters How to Have Sex in Un Certain Regard sowie Thien An Phams Inside the Yellow Cocoon Shell und der von Sean Baker mitrpoduzierte The Feeling that the Time for Doing Something Has Passed in der Quinzaine des Cinéastes sind nur einige Titel, die man im Auge behalten sollte.

Wem diese Titel zu nieschig sind, und wer ohnehin mehr auf Hollywood-Präsenz in Cannes bedacht ist, wird vermutlich die Weltprämiere von James Mangolds Indiana Jones und das Rad des Schicksals herbeisehnen, in dem Harrison Ford — vermutlich zum letzten Mal, aber wer kann sich dieser Tage da schon sicher sein —in die Rolle des bekanntesten Archäologen der Popkultur schlüpft. Erstmals gänzlich ohne ein Drehbuch George Lucas‘ und die Regie Steven Spielbergs auskommend, kommt James Mangold, der bereits mit Logan einem bekannten Franchise neues Leben einhauchte, eine tragende Rolle zu, hat Disney doch jüngst bestätigt, dass dieser fünfte Teil—mit neuen Gesichtern wie Phoebe Waller-Bridge, Mads Mikkelsen — der letzte Teil der Reihe sein wird. Einen Fan hat der Film bereits: Steven Spielberg zeigte sich in einer Vorabsichtung hellauf begeistert.

Indiana Jones und das Rad des Schicksals © Walt Disney Studios / Lucasfilms Ltd.

Während Artikel wie diese ihren Teil dazu beitragen, dass das Festival jene Strahlkraft, den Glamour und die Euphorie über Wochen hinweg aufrecht erhalten kann, schickt sich unterdes die wirkliche Welt, fernab der Stars und Sternchen, an, jene Selbstbetrunkenheit, wie sie an Orten wie Cannes unvermeidlich ist, lautstark zu stören. Die Kochtopfproteste, wie sie die Arbeitsgewerkschaft CGT bereits vor Wochen ankündigte, wurden jüngst allerdings von der Stadt Cannes untersagt, und es ist fraglich, ob sich die Protestierenden unter diesen Umständen ihren Weg an die Croisette bahnen können, ohne vom Sicherheitspersonal aufgehalten zu werden. Haupterreger der Proteste ist noch immer die von Macron per Dekret am Parlament vorbeibugsierte Rentenreform, der zufolge das Rentenalter in Zukunft angehoben wird. Doch auch gegen den strukturellen Sexismus in der französischen Filmindustrie möchte sich die CGT lautstark aussprechen und fordert eine breite Aufmerksamkeit an der Croisette. Derzeit steht zu befürchten, dass diese Proteste kaum Gehör finden werden, hat die Stadt Cannes diese doch nur auf dem Boulevard Carnot, weit entfernt vom Festival-Trubel rund um das Palais de Festival, für den 21. Mai stattgegeben. Die CGT erhofft sich mehr Aufmerksamkeit—einen Auftritt auf dem roten Teppich etwa, vor dem Grand Lumière sowie eine Pressekonferenz. Das biblische Bild eines Kampfes zwischen David und Goliath evozierend, kündigten Vertreter*innen der CGT bereits an, dass man sich im Extremfall darum bemühen werde, dem Festival wortwörtlich den Saft abzudrehen und durch einen forcierten Stromausfall endlich Gehör für jene Anliegen zu erhalten, die mitunter zwar auf der Leinwand verhandelt werden, die sich aber zu selten in echte Handlungen in der Welt übersetzen. Es bleibt also abzuwarten, ob in Cannes in diesem Jahr die Lichter ausgehen. Und auch wenn es fraglich ist, ob ein solcher Stromausfall im Umkehrschluss dazu führte, dass bei einigen die Lichter angehen, so gäbe es doch kaum eine eindrucksvollere Kulisse als Cannes, um sich daran zu versuchen.

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