Erwähnungen
Interview mit Shu Qui zu “Girl”
Von Lidanoir in Filmfestspiele von Venedig - Die Interviews
am Mittwoch, 10 September 2025, 02:14 Uhr
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Seit Jahrzehnten ist sie ein Star der chinesischsprachigen Filmwelt. Nun zeigt Shu Qi (Resurrection) mit ihrer ersten Spielfilminszenierung, dass sie hinter der Kamera ebenso zu beeindrucken vermag wie davor. Basierend auf ihren eigenen Kindheitserinnerungen begleitet Girl das schmerzliche Erwachsenwerden eines jungen Mädchens im Taiwan der späten 80er. Auf den Filmfestspielen von Venedig, wo das zwischen traumwandlerischen Gedankenspielen und harschem Realismus oszillierende Familiendrama im Wettbewerb läuft, fand die Regisseurin und Drehbuchautorin Zeit für ein Interview mit Lidanoir über den Schritt hinter die Kamera und ihre innige persönliche Verbindung zu der Geschichte.
Lida Bach: Für deinen neuen Spielfilm Girl bist du von der Schauspielerei zur Regie gewechselt. Wieweit diese Erfahrung?
Shu Qi: Ich muss mich beide allen Regieführenden, mit denen ich in den letzten 30 Jahren zusammengearbeitet habe, bedanken. Seit ich selbst Regisseurin bin, ist mir klar, wie viel Verantwortung bei der Regie liegt. Als Schauspielerin musste ich mich nur in einen Charakter hineinversetzen. In meinem jetzigen Film habe ich fünf Hauptfiguren und mich genau mit ihren Empfindungen und ihrer Position auseinandersetzen und dazu auch auf alle Nebenfiguren einstellen. Das ist eine völlig neue Erfahrung. In der Filmszene sind es ja meistens die Schauspielenden, die größte Erfolge feiern und die meiste Anerkennung ernten. Jetzt sehe ich, wie viel ich den Regieführenden, die mir 30 Jahre lang so wunderbare Erfahrungen und interessante Figuren und schauspielerische Möglichkeiten gegeben haben, zu verdanken habe.
LB: Was war der Anlass für dich, gerade bei dieser Geschichte hinter die Kamera zu wechseln?
SQ: Den Ausschlag gab die Zusammenarbeit mit Hou Hsioa-hsien. Ich habe über die Jahre in dreien seiner Filme die Hauptrolle gespielt. Er gab mir den Mut, selbst Regisseurin zu werden. Ich hatte oft schon daran gedacht, Regie zu führen, und dann stellte er mir genau diese Frage: Warum drehst du nicht deinen eigenen Film? Und ich wusste nicht, warum eigentlich nicht. Von da an begann ich die Arbeit an Girl. Ich wollte über etwas drehen, dessen Thema und Figuren mir vertraut sind.
LB: Der historische Zeitrahmen der Handlung in den späten 80er Jahren ist entscheidend für das Szenario und wird auf der Leinwand beeindruckend lebendig. Was bedeutet diese Ära für dich?
SQ: Ich bin in dieser Zeit aufgewachsen. 80 % der Geschichte handeln von meiner Kindheit. Dennoch ist die Protagonistin nicht ich und die anderen Charaktere sind keine realen Menschen. Das Setting wurde stark verändert. Aber die Erfahrungen der jungen Hauptfigur basieren auf meiner eigenen Reise durch Kindheit, Jugend und Erwachsenwerden und meinen eigenen Traumata.
LB: Vier der fünf Hauptfiguren sind weiblich. War es ein bewusster Entschluss, weibliche Perspektiven in den Fokus zu rücken?
SQ: Das ist eine sehr weitreichende Frage. Ich wollte vor allem die Verletzungen zeigen, welche die Familie Kindern zufügen kann. Nicht, dass es mir Spaß macht den Menschen zu zeigen, wie Eltern ihre Töchter misshandeln und wie Töchtern von ihren Familien weglaufen. Eigentlich möchte ich solche Geschichten nicht erzählen. Was ich hoffe ist, dass die Menschen, die diesen Film sehen, sich mit sich selbst und ihren Eltern versöhnen können.
Wenn Leute, die selbst einst Gewalt erfahren haben und nicht wissen, wie sie ihre eigenen Kinder erziehen sollen, diesen Film sehen, beginnt dieser Versöhnungsprozess vielleicht bei ihrer eigenen Familie. Vielleicht können Eltern sich so bewusst werden, wo die Ursachen der Gewalt liegen und einen Weg finden, ihr Verhalten zu ändern. Das war der Ausgangspunkt, zusammen mit der Hoffnung, dass jedes Kind in einer gesunden und glücklichen Familie aufwachsen kann.
LB: War es schwer, traumatische Erlebnisse aus der Kindheit noch einmal zu erleben, und die Kinderdarstellerinnen sie nachspielen zu lassen?
SQ: Bezüglich der Erfahrungen der jungen Mädchen war es nicht so schwer. Aber ich habe sehr mit der Mutter gefühlt, die es nicht geschafft hat, diese gewalttätige Partnerschaft zu verlassen. Wir hatten eine Szene gedreht, in der die Mutter allein zuhause war, während die Mädchen in der Schule waren. Diese Szene war etwa fünf Minuten lang. Sie war allein, putze, räumte auf, kochte Tee, wässerte die Pflanzen. Die Kamera beobachtete sie einfach nur und plötzlich musste ich weinen. Ich weiß nicht einmal, warum. Sie tat mir einfach so leid. Eigentlich ist diese Frau bewundernswert. Jeden Tag kümmert sie sich um all diese Dinge und hält alles in Ordnung. Plötzlich musste ich an meine eigene Mutter denken und was für ein großartiger Mensch sie ist.
Die Figur der Mutter im Film tat mir so leid. Was ging ihr durch den Kopf? Warum konnte sie nicht aus dieser Situation entkommen? Selbst Xiao-Li [die junge Hauptfigur] fragt ihre Mutter: Warum gehst du nicht fort? Und womöglich stellt ihre Mutter sich selbst diese Frage. Das ging mir so zu Herzen. Um die Figuren der Töchter war ich nicht so traurig, da ich wusste, dass sie eine bessere Zukunft haben würden. Aber die Mutter … das ist ein großes Problem beim Thema häuslicher Gewalt. Oftmals sehen die Betroffenen keinen Ausweg für sich.
LB: Dein Cast besteht sowohl aus Newcomerinnen als auch der prominenten Pop-Sängerin 9m88. Wie war es, mit Darstellenden zu arbeiten, die so unterschiedliche Hintergründe zusammenbringen?
SQ: Zunächst einmal habe ich großes Glück. Tatsächlich hatten alle Schauspielenden schon etwas Erfahrung und standen nicht komplett zu ersten Mal vor der Kamera. Schwierig wurde es, als ich nach einer Besetzung für die Rolle der Mutter suchte. Das ist eine Figur, die einerseits bereits Kinder hat und eine mütterliche Figur und Aura, andererseits aber noch eine junge Frau ist. Es war großes Glück, 9m88 zu finden, weil sie als Sängerin so frei und unbefangen ist. Ich musste ihr vermitteln, dass ihre Figur diese Freiheit nicht hat. Sie kann nicht einfach mit ihren Töchtern unbeschwert zusammen sein, sondern hat immer dieses Gefühl von Angst und Distanz. Alle Darstellenden waren zugleich sehr natürlich und professionell. Es war eine wunderbare Erfahrung, mit ihnen drehen zu dürfen.
LB: Vielen Dank für das Interview!
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