„Wenn Gewalt auf dem Bildschirm gezeigt wird, wird das dazu beitragen, eine gewalttätige Gesellschaft zu schaffen.", prognostizierte Mary Whitehouse in den 80ern, als die moralische Panik um Video Nasties in Großbritannien hochkochte. Die Gründerin der National Viewers' and Listeners' Association (heute: Mediawatch-UK) warnte, dass mediale Gewalt massiv ansteigen werde, würden nicht rigorose Schritte unternommen. Rigorose Schritte wurden unternommen, aber wieder gelockert. Die Gewalt auf dem Bildschirm stieg tatsächlich an, aber reale Gewalttaten gingen zurück. Gäbe es den von Moralwächter*innen, konservativen Politiker*innen und den John Grishams dieser Welt beschworenen - und jetzt alle im Chor - „direkten kausalen Zusammenhang“ zwischen Horror-Konsum und realer Gewalt, wäre die Schlussfolgerung, dass Horrorfilme Gewalttaten verhindern. Also schnell die Terrifier-Trilogie einschalten, um den Weltfrieden anzukurbeln? Bisher hat auch keine Studie einen kathartischen Horror-Effekt festgestellt.
Wissenschaftliche Belege für eine gewaltsteigernde Wirkung Horror-Filmkonsums gibt es nicht. Dass beunruhigend häufig das Gegenteil behauptet wird, liegt teils am Trugschluss der Gleichsetzung von Korrelation und Kausalität. Was etwa so ist, als ob man glaubt, dass Springerstiefel Rechtsextremismus verursachen, weil manche Rechtsextreme Springerstiefel tragen. Bei solchen simplizistischen Schlussfolgerungen werden auch offensichtliche Faktoren gerne ignoriert, wenn sie nicht zu einer vorgefassten Überzeugung passen. Beim Heath High School Shooting 1997 betrat der 14-jährige Michael Carneal seine Schule mit vier Winchester Gewehren und einer Ruger 22er Pistole und erschoss drei seiner Klassenkamerad*innen. Der Anwalt der Eltern initiierte eine millionenschwere Klage gegen Time Warner, Sony Computer Entertainment, Palm Pictures, Island Pictures, New Line Cinema, Atari, Nintendo und Polygram Film.
Die Video Games Doom, Redneck Rampage, Nightmare Creatures, Resident Evil, und Mortal Kombat sollten Carbeal zum Killer gemacht haben. Erwähnt wurden zudem NBK und Scott Kalverts biographisches Drama The Basketball Diaries. Wie ein 14-Jähriger an vier Gewehre kam und diese unbehelligt herumtragen konnte, schien dabei irrelevant. Gary Ridgway aka the Green River Killer war ein bibeltreuer Christ, der seine Taten als religiöse Mission verstand, doch niemand forderte ein Verbot der Bibel. John Wayne Gacy liebte Country Musik und Clowns, was einzeln betrachtet schon gruselig ist, aber im Doppelpack (Country Clowns!) absolut scary. Trotzdem wird kein Clown-Verbot erwogen. Mal ehrlich, was müssen Clowns noch anstellen?! TRAUT KEINEN CLOWNS! Ebensogut ließe sich eine Gewalttat auf Süßigkeiten schieben. So geschehen 1978 in San Francisco.
Damals erschoss der republikanische Abgeordnete und Ex-Polizist Dan White die Stadträte George Moscone und Harvey Milk. Zweiter war der erste offen queere Mensch, der in den USA ein öffentliches Amt bekleidete, was White, wie viele seiner republikanischen Kollegen, als Niedergang amerikanischen Anstands sah. Laut seines Anwalts allerdings steckten hinter dem Mord nicht dessen intolerante Gesinnung, sondern creme-gefüllte Fertigkuchen. Davon hatte White Unmengen verdrückt, was klar auf Unzurechnungsfähigkeit hinwies, wie das Gericht urteilte. White kam mit fünf Jahren wegen Totschlags davon. Twinkies gibt es weiterhin in jedem US-Supermarkt und nirgendwo warnte eine Schlagzeile „Ban Sugar-coated Sadism NOW!“ Wenn vor Gericht die Verteidigung Filmen eine Mitschuld zuweist, ist dies meist ein ähnlicher Versuch, in einem scheinbar aussichtslosen Fall eine Strafminderung zu erreichen.

Dabei ist die moralische Panik, wie sie in den 90er gegen Horrorfilme ausbrach, gezielt von populistischen Medien initiiert, um einer konservativen politischen Agenda zu dienen. Aus Einzelfällen (die meistens einer genauen Prüfung nicht standhalten) wird ein falsches Narrativ erschaffen, das verbreitete Vorurteile und irrationale Ängste bedient. Historische Beispiele dafür gibt es en Masse. Die Hexenprozesse von Salem 1692-93 sind ein Klassiker. Weniger geläufig ist die Potato Paranoia, die im Europa des 18. Jahrhunderts den Glauben verbreitete, Kartoffeln verursachten Krankheiten wie Lepra. Ihr wollt jetzt vermutlich wissen, wie Leute Kartoffeln für tödlich halten konnten (Hinweis: Es hat mit der Bibel zu tun), aber es gibt noch so viele moralische Paniken, die stattdessen erwähnt werden müssen.
McCarthyism, die Comic Book Panic, der War on Drugs und die einzige moralische Panik, die noch besser benannt wurde als die Potato Paranoia: die Satanic Panic. Diese Aufzählung berücksichtigt nicht einmal lokal begrenztere moralische Paniken wie die hiesige Panik vor Ego-Shooter Games nach dem Erfurter Schulattentat. Diesen in Ort und Ära verschiedenen Ausbrüchen gemeinsam ist die Angst vor Vergiftung: Etwas gelangt in die Körper oder Köpfe und richtet dort Verheerung an. Ob Impfstoff-Paranoia oder Islamophobie, Kernelement ist die Furcht vor infektiöser Infiltration. Und was hilft gegen Infiltration? Kontrolle! Ein Grundpfeiler konservativer Politik ist von jeher die Einschränkung elementarer Freiheiten für ein Versprechen von Sicherheit. Und wenn erst einmal die absolute Sicherheit erreicht ist, braucht es schließlich keine Horrorfilme mehr. Wie Stone schon treffend anmerkte: Die Realität ist dann das Horror-Szenario.