“Die Programm-Auswahl hält der Welt einen Spiegel vor”, sagt Festival-Leiterin Triine Lokk zu der 29. Ausgabe der Tallinn Black Nights, die vom 7. bis 23. November 2025 die estnische Hauptstadt in ein Zentrum der internationalen Filmkunst verwandeln. Sowohl formal als auch thematisch präsentiert das längste und in der Menge an Filmen wohl umfangreichste aller Film Festivals ein vielfältiges Spektrum an Beiträgen aus aller Welt, die sich mit den drängenden Fragen der Gegenwart auseinandersetzen. Gesellschaftliche Spaltung, Umweltzerstörung, Migration, Machtpolitik, Frauenrechte und familiäre Beziehungen sind zentrale Aspekte des erneut erschlagend umfangreichen Programms. Das versammelt 30 nationale Premieren und über 100 Weltpremieren.
Solche sind bis auf eine Ausnahme alle der 17 Beiträge des Hauptwettbewerbs. Zu den am meisten erwarteten Titeln darunter zählen João Nuno Pintos18 Holes to Paradise, Abbas NezamdoostsDualitysowieThe Good Daughtervon Júlia de Paz Solvas. Vom introspektiven Drama über gesellschaftskritische Parabeln bis hin zu visuell experimentellen Erzählformen ist alles vertreten. Während die Sektion für Langfilm-Debüts sich weiter als Sprungbrett für junge Regie-Talente etabliert, gilt der Länderschwerpunkt diesmal dem katalanischen Kino, laut Lokk “inspiriert von dessen wachsenden internationalen Ansehen”. Carlos Marques-Marcets als Eröffnungsfeier ausgewählte Musical-TragikomödieThey Will Be Dustund Oliver Laxes gefeierte apokalyptische AllegorieSirātzählen zu den prominentesten Titeln der Sektion.
Die internationale Jury der Hauptsektion wird in diesem Jahr von der renommierten Regisseurin Teona Strugar Mitevskageleitet, die gemeinsam mit Filmschaffenden aus den Bereichen Produktion, Kamera und Design über die Vergabe der Hauptpreise entscheidet. Dazu richtet sich ein wortwörtliches Spotlight auf Österreich, das mit Jessica Hausner, Abu Bakr Shawky, Elsa Kremser und Levin Peter diverser und jünger repräsentiert wird. “Wir versuchen Filme zu entdecken”, sagt Lokk, die wie zum Beweis dafür den 47 Sektionen des Festivals mit Doc@PÖFF Baltic Competition noch eine weitere eigens für baltische Dokumentarfilme hinzugefügt hat. Mehr ist mehr auf den Black Nights, wo in diesem Jahr rund 550 Titel laufen.
Gut die Hälfte davon sind Kurzfilme, doch allein die Features sind mehr als Cannes und Venedig zusammen. Das internationale Star-Aufgebot der eurozentrischen Elite der Festival Szene kommt bisher kaum zu den Vorführungen der Sektion Best of Festivals, die getreu ihres Titels Highlights von Toronto, Venedig, Locarno & Co. Präsentiert. In diesem Jahr sind darunter Alice WinocoursCouture, Gus Van SantsDead Man’s Wireund Lav Diaz’Magellan. Unabhängigkeit, sowohl im Kuratieren des Programms als auch der politischen Ausrichtung wird in diesem Jahr besonders betont. Boykotte von Produktionen, etwa aus Israel oder Russland, gibt es offiziell nicht, wobei die Sorgfalt der Auswahl besonders hervorgehoben wird.
Die Begründung, dass allein künstlerische Kriterien entscheiden würden, hat indes einen ambivalenten Nachklang. Unabhängig von der inhärenten Problematik eines pauschalen Ausschlusses aller Filmschaffender einer bestimmten Region, haben Filme, Kino und Festivals immer auch eine politische Ebene - egal ob sie diese verdecken oder klar darstellen. So wie Tallinn mit Annemarie Jacirs palästinischen Oscar-KandidatenPalestine 36, Kaouther Ben Hanias in Venedig ausgezeichnetenThe Voice of Hind Rajabsowie dem israelischen Oscar-VorschlagThe Seavon Shai Carmeli-Pollak. Immerhin war der Oscar-Erfolg vonFlowwie eine internationale Initialzündung für die baltische Film-Szene, die dadurch mehr von der verdienten Aufmerksamkeit erhielt. Die Black Nights haben alles, um in die erste Festival-Liga aufzuzeigen.
Ob die 29. Ausgabe den großen Durchbruch bringt? Die nächsten 16 Tage werde es zeigen, wenn sich in der mit Wölfen - dem Trophäen-Tier der Black Nights - in Form von Postern, Statuen und Logos übersäten Stadt wieder alles um Kino dreht. Wir sind für euch zum zweiten Mal mit Filmkritiken, Interviews und Berichten dabei.