Was bleibt von 13 Tagen voller Filme? Während die vorbeirauschenden Bilder langsam verblassen und die Erinnerungen stärker ineinander übergehen, gewinnt diese Frage immer mehr an Brisanz. Wie gerecht kann man einem Werk noch werden, wenn man bereits drei Film an diesem Tag gesehen hat? Wie genau kann man noch schauen, wenn der Kopf voll und die Augen müde sind? Überlegungen dieser Art gehören zu jedem Festival dazu. Noch mehr als bei einer Sichtung außerhalb des Festivalkontextes sind die Begegnungen mit Filmen flüchtig und ihr Eindruck nur eine Momentaufnahme. Und auch wenn dieser Festivalreigen aus Bewegtbildern sicherlich nicht immer die beste Form ist, jedem Film gerecht zu werden, so entsteht dabei doch etwas, was über die Qualität eines einzelnen Werks hinausreicht. An zwei Filmpaaren im Programm der Viennale hat sich das besonders gezeigt.
Sowohl bei After The Hunt als auch bei Sorry, Baby geht es um sexuelle Belästigung im US-amerikanischen Universitätsmilieu. Während Luca Guadagnino einen satirischen Thriller inszeniert, in der eine von Julia Roberts verkörperte College-Professorin im Mittelpunkt steht, konzentriert sich Eva Victor in ihrem Regiedebüt stärker auf die Perspektive des Opfers und ihrem Umgang mit dem erlebten Übergriff. Zwei Ansätze, die völlig unterschiedliche Stärken und Schwächen aufweisen und sich durch ihre thematische nähe doch verwandt anfühlen. Sorry, Baby ist formal durchaus anspruchsvoll und erzählt die Missbrauchserfahrung von Agnes in mehreren, nicht chronologisch angeordneten Kapitel. Eva Victor inszeniert sich selbst als tragische Protagonistin, die in ihren verzweifelten Verarbeitungsversuchen nicht zuletzt einen grimmigen Humor als Ventil nutzt. Eingebettet in die Traditionen des amerikanischen Indiekinos weiß Sorry, Baby durchaus zu berühren, fühlt sich letztlich jedoch etwas zu versöhnlich und harmlos an.
Ganz anders bei Luca Guadagnino, der sich wenig um die persönliche Perspektive des Opfers schert und stattdessen die Graustufen im universitätspolitischen Machtgefüge auslotet. Dabei legt Drehbuchautorin Nora Garrett ihren Figuren mehr als einmal grenzüberschreitende Worte in den Mund, die dadurch an Gewicht gewinnen, dass diese Meinungen auch im echten Diskurs vertreten werden – etwa wenn die Professorin ihrer Studentin empfiehlt, lieber nicht öffentlich über ihren Missbrauch zu sprechen, weil sie sonst eine zukünftige Karriere an der Universität vergessen kann. Dadurch wird After The Hunt zu einem ungemütlichen Film, der die Moralvorstellungen der Zuschauerschaft herausfordert. Ihm deswegen unreflektierte Ablehnung entgegenzubringen, wäre der falsche Schluss. Schließlich muss man den zahlreichen Wendungen nicht zustimmen, um Gefallen daran zu finden, wie Guadagnino die satirischen Daumenschrauben immer enger dreht. Inwiefern man die Frage, ob ein sexueller Übergriff tatsächlich stattgefunden hat (und damit die Glaubwürdigkeit eines Opfers bis zu einem gewissen Grad anzweifelt) zu einem zentralen Spannungselement der Handlung macht, darf und muss moralisch noch weiter diskutiert werden.
Deutlich unterschiedlicher fühlen sich hingegen Gavagai und The Fence an. Die Verbindungslinien zeichnen sich hier weniger unmittelbar im Inhalt ab, sondern finden vor allem auf einer Metaebene statt. So ist die fiktive Regisseurin in Ulrich KöhlersGavagai eine blonde Französin namens Caroline Lescot (Nathalie Richard), die ein paar Gemeinsamkeiten zu viel mit Claire Denis hat, als dass diese rein zufällig wären. Die wiederum zeichnet für The Fence verantwortlich, der uns ebenfalls – wie so oft bei Denis – nach Afrika bringt. Dazu kommt, dass beide Werke von der griechischen Mythologie zehren. Während in Gavagai in einem Film im Film eine Neuadaption von Medea gedreht wird, verwandelt sich der filmische Raum in The Fence zu einer Theaterbühne. Als moderne Adaption des Theaterstücks Black Battles with Dogs weist The Fence wiederum zahlreiche Parallelen mit dem Mythos der Antigone auf.
Mit etwas Abstand zum Festival stechen zwei weitere Filme heraus, die besonders überraschen konnten. Bei Honey Don’t! lag der Überraschungsfaktor an den überaus niedrigen Erwartungen, die sich Ethan Coen durch sein katastrophales Machwerk Drive-Away Dolls verdient hat. Honey Don’t! klingt auf dem Papier erst einmal sehr ähnlich, erreicht auf der Leinwand jedoch eine Qualität, die mich stark daran zweifeln ließ, ob ich Ethan Coens ersten Solofilm in meinem vernichtenden Urteil völlig unrecht getan habe. Der zweite Teil der von ihm selbst als Lesbian B-Movie Trilogy bezeichneten Filmreihe (Go, Beavers! wird noch folgen) lässt zwar einen dediziert queer-feministischen Blick vermissen, wird darüber hinaus aber zu einem überaus unterhaltsamen und rasantem Crime Thriller. Die Anbiederung an die Traditionen des B-Movies mögen manchen Zuschauer*innen gestellt vorkommen, werden durch eine zusätzliche Ironisierung jedoch gebrochen und finden dadurch doch etwas Subversives.
Bei Sho MiyakesTwo Seasons, Two Strangers waren die Erwartungen hingegen bereits im Vorfeld sehr hoch. Nichtsdestotrotz gelingt dem Film eine Überraschung. Es ist sensationell, wie ruhig und behutsam der japanische Regisseur in sein Werk einführt. Unaufgeregt und doch überaus präzise konstruiert er eine Welt, die sich vertraut anfühlt. Die Schüchternheit seiner Figuren erhebt Miyake auch zum formalen Gestaltungsprinzip. Langsam tasten sich die Bilder an die Einsamkeit seiner Figuren heran. Vieles bleibt unausgesprochen und wird stattdessen über Landschaften und das Wetter ausgedrückt. Trotz aller Qualität und dem Goldenen Leopard scheint Two Seasons, Two Strangers etwas unter dem Radar zu fliegen. Dennoch kann es nur eine Frage der Zeit sein, bis Miyake in einem Atemzug mit Ryūsuke Hamaguchi genannt wird, wenn es um die interessantesten japanischen Regisseure der Gegenwart geht.