Inhalt
Laurents Leben in der normannischen Küstenstadt Fécamp erscheint dem Ideal sehr nah: Seine Langzeitpartnerin Marie hat gerade seinen Heiratsantrag angenommen und ihre Tochter Poulette ist eine Quelle der Positivtät. Beinahe so sehr wie seine Familie liebt Laurent seinen Job als örtlicher Polizeichef; wohin er auch kommt, begegnen ihm die Leute mit Respekt und meist sogar Zuneigung. Eines Tages jedoch, als er den Bauern Julien kontrolliert, der Probleme damit hat, die EU-Agrarregularien einzuhalten, laufen die Dinge aus dem Ruder, und Laurent segelt auf einer existenziellen Reise davon.
Kritik
Auf dem Papier gibt es sicher dankbarere Aufgaben, als im „Black Lives Matter“-Zeitgeist einen Film zu drehen, der seine Zuschauer*innen dazu nötigt, sich in das Seelenleben eines Polizisten hineinzuversetzen, durch dessen Schuss ein verzweifelter, von der EU und ihren versprochenen Agrarsubventionen im Stich gelassener, Bauer im Rahmen eines Einsatzes getötet wird. Allein, so einfach ist es nicht. Xavier Beauvois (Les gardiennes) scheint sich von aktuellen Bewegungen ohnehin wenig irritieren zu lassen. Statt auf strukturellen Probleme einzugehen, die in Albatros nur am Rande zur Sprache kommen, zoomt er heran auf die kleinstmögliche Einheit, das Individuum, und schildert vom Vor und Danach im Leben des Polizisten Laurent (Jérémie Renier).
Es kann jeden treffen
Als jemand, der 1996 bereits als Jugendlicher in einem der besonders heiklen Filme des belgischen Brüdergespanns Dardenne, La Promesse, zu sehen war, ist es Jérémie Renier (In Bruges) durchaus nicht fremd, moralische Dilemmata auf der Leinwand zu verhandeln. Damals musste der von ihm porträtierte Igor sich entscheiden zwischen dem was einfach, und dem, was richtig ist. In Xavier Beauvois‘ Albatros ist er jenem prekären Alter längst entwachsen, in welchem er die eigene Verantwortlichkeit im Angesicht einer Notlage den Erwachsenen überlassen könnte. Als Familienvater und Polizist Laurent ist er vielmehr nun selbst die Person, die andere in Krisenzeiten aufsuchen und fühlt sich sichtlich wohl mit dem Vertrauen und der Anerkennung, das er immer und überall genießt. Als Mann des Prinzips trägt er die Beschwerlichkeiten seiner Arbeit allerdings nicht mit nach Hause; lässt den Mann, der sich durch den Sprung von der Klippe das Leben nimmt, ebenso wie einen sich immer weiter entspinnenden inzestuösen Missbrauchsfall, nicht ins Haus hinein, ganz, als handele es sich um modderige Schuhe nach dem Wandern im Regen.
Dieses Prinzip lässt sich nach dem Vorfall mit dem Bauer Julien (Geoffrey Sery) nicht mehr aufrechterhalten. Laurent verfällt in Sprachlosigkeit und Apathie. Die Erinnerung an die Geschehnisse, die die Zuschauer*innen nur Momente zuvor bezeugen konnten, sind für Laurent kaum noch abrufbar. Sie scheinen einem anderen Leben anzugehören, einer anderen Zeit. Die üblichen Prozesse und Strukturen, die Zahnräder, die die Gesellschaft immer weiter funktionieren lassen, erscheinen nun sinnentleerter denn je, auf bestimmte Weise gar pervers. Die Erholung von einem traumatischen Erlebnis wird mit 10 Tagen bemessen, ganz den bekannten Formeln entsprechend, die in solchen Fälle anzuwenden sind.
Das Problem des Abbilds
Wir Zuschauer verlieren zu keinem Zeitpunkt unsere Sympathien für Laurent, zu leicht, und ebenso unmöglich, ist sein Schmerz nachzufühlen. Untermalt von der leitmotivischen Hymne Stabat mater, der schmerzerfüllten Maria im Angesicht des gekreuzigten Jesu, begleiten wir Laurent auf der Suche nach dem Moment der Erlösung. Beauvois verzichtet in dieser Reise allerdings gänzlich auf Momente des Irrationalen, der Irritation, der Friktion und entscheidet sich stattdessen für die Abbildung des Schmerzes und der Taubheit. Der Ozean, so versucht Laurents Partnerin Marie (Marie-Julie Maille, Des hommes et dieux) ihrer Tochter Poulette (die Tochter des Filmemachers, Madeleine Beauvois, Les gardiennes) in aller Zuversicht zu versprechen, werde ihrem Vater den Trost bringen, nach dem er sich sehnt.
Das ist so nachvollziehbar, so klar, wie es dann auch ohne die kleinsten Überraschungen daherkommt. Denn wenn sich das Abbild ohne nennenswerte Brüche mit den Erwartungen der Zuschauer*innen deckt, ergibt sich daraus wenig mehr als eine schöne Bebilderung. Sinnbildlich dafür ist die Inszenierung der normannischen Hafenstadt Fécamp, die zu bloßer Szenerie verkommt. In einem Film, der den Antagonismen eine Absage erteilt, sind es dann bezeichnenderweise die gegen die Polizeigewalt protestierenden, ‚ahnungslosen‘ Bauern, die noch am ehesten in Opposition zu Laurent treten, dabei ist es das Versagen der europäischen Agrarpolitik, das das Dilemma in Beauvois‘ neuestem Film erst heraufbeschwört.
Fazit
Zu den Höhen eines Des hommes et dieux kann sich Xavier Beauvois in seinem neuesten Film nicht aufschwingen, dafür fehlt ihm jeder Widerstand, jede Irritation. Handwerklich kompetent, verliert er sich zu sehr in seinen stillen Elegien, um einmal mehr das Meer zum Hort des Seelenheils zu stilisieren.
Autor: Patrick Fey