Inhalt
Nach dem Tod seines jüngsten Bruders Idir findet Abdel seine Familie zerrissen vor. Der Soldat war eigentlich an der Front eingesetzt, kehrt aber für seine Lieben ins Banlieue zurück. Dort muss er feststellen, dass sein jüngerer Bruder Karim von Rachegelüsten zerfressen ist. Sein älterer Bruder Moktar ist in die Kriminalität abgedriftet. Sie machen Polizisten für den Tod Idirs verantwortlich. Abdel versucht, die wachsenden Spannungen in seiner Familie zu lösen. Als die Situation eskaliert, verwandelt sich ihre Gemeinde Athena in eine belagerte Festung. Sonderkommandos der Polizei versuchen diese einzunehmen. Darunter befindet sich auch der junge Jérôme. Athena wird zum Schauplatz einer Tragödie für Abdels Familie und den übrigen Bewohnern.
Kritik
Keine zwei Minuten. Nach nicht mal 120 Sekunden hat Athena das, was man allgemein als Exposition bezeichnen könnte, bereits abgehandelt und startet mit einer beispiellosen Unmittelbarkeit in das Geschehen, das einem bis zur Titeleinblendung – nach knapp 10 Minuten – kaum Zeit zum Luftholen bleibt. Da wird Elitesoldat Abdel (Dali Benssalah, James Bond 007 - Keine Zeit zu sterben) kurz vor die Kameras am örtlichen Polizeirevier gezerrt, wo die zuständigen Ermittler das Bedauern über den Tod seines 13jährigen Bruders zum Ausdruck bringen, der offenbar durch einen Akt von Polizeigewalt verstarb. Sofortige Aufklärung wird versprochen, was sich Abdel’s zweitjüngster Bruder Karim (Sami Slimane) und sein vermummtes Gefolge nicht länger anhören wollen. Es fliegt ein Molotowcocktail und in der Folge wird das Polizeirevier von dem aufgepeitschten Mob geplündert. Mit den erbeuteten Waffen verschanzen sich die Jugendlichen in ihrem Banlieue, dem überwiegend von algerisch Stämmigen bewohnten Armenviertel Athena. Dabei wird die nahezu perfekt Illusion eines One-Shots verwendet, bei dem die Kamera die kompletten 10 Minuten (scheinbar) ungebremst an den Figuren haftet. Ein furioser Auftakt, der sowohl die Stärken wie Schwächen dieses auf den Filmfestspielen in Venedig debütierten Netflix-Films gleichzeitig auf den Punkt bringt.
Nach diesem bockstarken Opener, der sogar an die inszenatorisch vergleichbare Sequenz aus Children of Men erinnert, wird sich zunächst auch nicht lange ausgeruht, sondern weiterhin die aufgeheizte, wütende Impulsivität als narratives Stilmittel gekonnt eingesetzt. Es gab keine richtige Exposition, es gab auch keine richtige Charakterisierung. Aber es brauchte sie bis hier hin auch nicht. Denn das Einzelschicksal, es ist eigentlich nur ein stellvertretender Platzhalter und letztlich auch völlig egal, solange der Film nur eine allgemein bekannte Situation auf den üblichen Wegen eindrucksvoll eskalieren lassen will. Das in Frankreich seit Jahrzehnten dauerpräsente Thema der sozialen Schieflage und daraus resultierenden Gewalt, insbesondere in der Migrations-Subkultur, liegt Ladj Ly aufgrund seiner eigenen Herkunft besonders am Herzen. Der in Mali geborene Franzose lieferte 2019/20 mit Die Wütenden – Les misérables ein fulminantes Spielfilmdebüt in der Doppelfunktion von Drehbuchautor und Regisseur, das sich bereits mit dieser Problematik auseinandersetzte. Dass er auch hier für das Drehbuch verantwortlich ist, schraubt die Erwartungshaltungen für Athena umso höher und der wahnsinnig effiziente erste Akt macht Lust auf mehr.
So stark alles bis dahin inszeniert ist, spätestens ab der Hälfte fällt dem Film seine stiefmütterlich behandelte Charakterzeichnung deutlich auf die Füße. Ab einem gewissen Punkt kann eben nicht mehr alles über die Präsentation geregelt werden und sobald Athena dem Publikum kleine Atempausen gewährt, kommen seine narrativen Defizite deutlich zum Vorschein. Die Figuren sind zu flach gezeichnet, als dass ihr Schicksal einen wirklich berühren könnte. Insbesondere die Charakterentwicklung von Protagonist Abdel erfolgt im überstürzten Hauruckverfahren. Was sich zu Beginn noch situationsbedingt und über die irrsinnige Dynamik akzeptabel regeln ließ, besitzt im Gesamten zu wenig echte Substanz. Das am Ende auch noch im Raum steht, alles würde es sich nur um eine Verkettung von Missverständnissen bzw. eine gezielte Intrige handeln, wirkt angesichts der ganz realen Ereignisse auch noch ziemlich unglücklich gewählt. Zwar sollte man von einem Film wie Athena nicht zwingend erwarten, dass er das große, sozial-politische Problem an der Wurzel oder sogar nur wirklich am Schopf anpackt, dennoch wäre etwas mehr Fingerspitzengefühl diesbezüglich angemessener gewesen.
Fazit
Mit Sicherheit eine der handwerklich besten Streaming-Premieren des Jahres bisher. Mit seiner wuchtigen Präsentation kann „Athena“ ungemein viel Eindruck schinden und eine gewisse Zeit auch mühelos über inhaltlich Baustellen hinwegblenden. Die Rechnung mag am Ende nicht ganz aufgehen und im Vergleich mit dem deutlich besseren „Die Wütenden – Les misérables“ zieht er eindeutig den Kürzeren, dennoch sollte man diesem Film zumindest mal eine Chance geben. An Adrenalinmangel geht hier auf jeden Fall niemand zu Grunde.
Autor: Jacko Kunze