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Gu Wentong, ein geschiedener Restaurantkritiker mittleren Alters, lernt durch seine Arbeit die junge Fotografin Ouyang Wenhui kennen. Als er zufällig vom Aufenthaltsort seines Vaters erfährt, zu dem er seit mehr als vierzig Jahren keinen Kontakt mehr hatte, bereitet er sich auf ein Wiedersehen mit diesem vor.
Kritik
Es dauert eine ganze Weile, bis wir die erste Einstellung aus Zhang Lüs The Shadowless Tower zu sehen bekommen, was zum einen an der Schwarzblende liegt, mit der der Film einsetzt und während derer wir ein Mädchen im Gespräch mit seinem Vater hören können. Noch bevor sich jene Szene allerdings abspielen kann, sehen wir eine nicht enden wollende Anzahl an Produktionsstudio-Intros, die uns, mit zunehmender Häufigkeit, vor Augen führen, dass es keine Selbstverständlichkeit ist, dass dieser Tage überhaupt ein Zhang-Lü-Film das Licht der Welt erblickt. Umso erfreulicher ist es, das der sino-koreanische Auteur noch immer in der Lage ist, die richtigen Menschen von seinen Projekten zu überzeugen. In seinem neuesten, The Shadowless Tower, ist es, anders als noch in früheren Filmen wie Fukuoka (2019) und Yanagawa (2021), kein klar identifizierbarer Sehnsuchtsort, an den seine Protagonistïnnen in der Hoffnung reisen, eine vergangene Liebe oder Freundschaft aufleben zu lassen oder schlicht ein Gemälde wiederzusehen (Gyeongju (2014)), das sie niemals ganz losgelassen hat. In The Shadowless Tower verhält es sich mit der im Zentrum stehenden Stadt Beijing, der langjährigen Heimat Zhang Lüs, insofern anders, als diese weniger der Ort ist, der bereist und erschlossen werden muss, denn zur Alltagskulisse wird, die gleichwohl von einer nicht von der Hand zu weisenden Mystik ist.
Der eponyme „schattenlose Turm“ etwa, der in Beijing lediglich als weißer Turm oder weiße Pagode bekannt ist, stellt ein solches Mysterium dar. Erstmals Ende des 13. Jahrhunderts gebaut, musste dieser im Laufe der Jahrhunderte aufgrund verschiedener Erdbeben mehrfach wiederaufgebaut werden. Als wäre dessen palimpsestartige Aura damit nicht bereits genug unter Beweis gestellt, erfahren wir an einer Stelle des Filmes überdies, dass jener Turm keinen Schatten werfe. Oder – nein – einen Schatten werfe der Turm schon, allerdings sei dieser nicht aus der allzu unmittelbaren Distanz der Bewohnerïnnen Beijings zu erkennen. Wenn überhaupt, könne er nur aus extremer Entfernung gesehen werden, auf Tibet fallend. So zumindest erklärt es Gu Wentong (gespielt von Xin Baiqing, der bereits in Zhang Lüs Yanagawa mitspielte), ein gescheiterter Poet und geschiedener Mann mittleren Alters, der sich dieser Tage als Online-Restaurantkritiker verdingt. Zwar handelt es sich bei Gu Wentongs Schilderung lediglich um das Aufrufen einer lokalen Legende, allerdings lässt sich diese, bildlich verstanden, kaum ohne ihren politischen Subtext verstehen. Gu Wentong ist es unterdessen auch, den wir eingangs während der Schwarzblende im Gespräch mit seiner Tochter hören, die ihm von ihrem jüngsten Traum erzählt, in welchem er sie geschlagen habe. Ob er ein guter oder schlechter Mensch sei, fragt sie ihn nach ihrer Schilderung, als ob keinerlei Hierarchie mehr bestünde zwischen Traum und Realität.
Aus dem Munde eines kleinen Mädchen kommend sorgt diese Frage offenkundig für Heiterkeit im Publikum. Für jene, die mit Zhang Lüs Filmographie auch nur ansatzweise vertraut sind, drückt sich in dieser Frage indes noch eine andere, weitaus implizitere Pointe aus, schließlich könnte dem Filmemacher Lü in seinem narrativen Ansatz nichts ferner liegen als manichäische Figurenkonstellationen. Sofern sich überhaupt Antagonismen in seinen Filmen finden lassen, figurieren sie stets als Konfliktpole innerhalb der Protagonistïnnen selbst. Als Gu Wentong in genannter Eingangsszene – seinem gemeinsamen Ausflug mit der Schwester Gu Wenhui (Qinqin Li,Cala, My Dog!), deren Mann Li Jun (Hongwei Wang, A Touch of Sin) sowie seiner Tochter zum Grab seiner verstorbenen Mutter – einen Blumenstrauß bemerkt, den weder er noch seine Schwester am Grabstein hinterlassen hat, setzt sich eine, obgleich nur in der Retrospektive erkennbare, Wendung in seinem Leben in Gang, die wenig später weiter angefeuert wird, als sein Schwager ihm in einem unbehelligten Moment eröffnet, dass es Gu Wentongs Vater Gu Yunlai gewesen sei, der die Blumen dort abgelegt habe. Jener Gu Yunlai also, den Gu Wentong und seine Schwester seit jenem Jahrzehnte zurückliegenden Tag ihrer Kindheit nicht mehr gesehen haben, als ihre Mutter ihren Vater vom Hof jagte. Gu Yunlai, so führt sein Schwager weiter aus, lebe nun abgeschieden in der Küstenstadt Beidahe und kehre nur wenige Male pro Jahr – zum Geburtstag seiner beiden Kinder etwa – nach Beijing zurück – eine fast 300 km lange Reise, die er aus unerfindlichen Gründen traditionell auf dem Fahrrad bestreitet. Ihm ebenfalls die Telefonnummer und Adresse seines Vater aushändigend lässt sein Schwager Gu Wentong nun tief versunken in seinen Gedanken zurück.
Gewissermaßen fühlt sich Zhang Lüs bittersüßes Drama in der Folge so an, als würden wir Gu Wentongs Gedankenwelt von diesem Zeitpunkt an nicht mehr verlassen, was sich durch den auf ihn gerichteten narrativen Fokus nur noch verstärkt. Ein wenig später, wenn wir Gu Wentong erstmals „auf Arbeit“ sehen – was hier gleichbedeutend ist mit: am Restauranttisch sitzend und eine Portion Yibin Nudeln vertilgend – und mit seiner jungen Kollaborateurin Ouyang Wenhui (Yao Huang, The Crossing), die die Fotos für seinen Foodblog macht. Wie bei Zhang Lü nicht unüblich, kommt dieser jungen Frau eine gewisse Funktion zu, die sich leicht als funktionalistisch und überdies in ihrer Darstellung als idealisiert beschreiben ließe. Der Sino-Koreaner scheint sich dieser Fallstricke allerdings bewusst und bemüht sich erst gar nicht, Ouyang Wenhui mit einer Alibi-Psyche auszustatten. Mehr als einmal hören wir eine den Film durchziehende Weisheit, dass zu viel Höflichkeit Menschen auf Distanz halte. Es ist lohnenswert zu fragen, ob sich Gu Wentong dieser Einsicht gewahr ist; in jedem Fall führt seine größtmögliche Bedacht auf Höflichkeit zu einem Leben, das zwar friktionslos, gewissermaßen aber auch leidenschaftslos daherkommt, und das Zhang Lü nur folgerichtig mit höflichem Abstand einfängt.
In der autonomen Präfektur Yanbian im Nordosten Chinas in dritter Generation von Sino-Koreanerïnnen aufgewachsen, ist es vielleicht nicht zufällig, dass Zhang Lü, der vor seiner Karriere als Filmemacher als Professor für chinesische Literatur an der renommierten Universität von Yanbian tätig war, qua Geburt gewissermaßen eine Außenseiterposition einnahm – eine Disposition, die sich in zahlreichen Literaturreferenzen niederschlägt (am offensichtlichsten Roland Barthes Fragmente einer Sprache der Liebe und Lu Xuns Prosagedicht Die Herbstnacht) und gleichsam prädestiniert erscheint für einen Filmemacher. Zhang Lüs inszenatorische Distanz erlaubt es uns zumeist, die Figuren nicht nur als Individuen, sondern Subjekte innerhalb eines sozialen Kontextes zu betrachten, weshalb der Fokus auf Gu Wentong es uns immer auch erlaubt, diesen im Zusammenspiel mit seinem sozialen Umfeld zu erleben und auf diese Weise kleine, bisweilen fast unmerkliche, Verschiebungen auszumachen. So erfahren wir etwa, dass Gu Wentongs Freundesgruppe, mit denen er dem Anschein nach regelmäßig zu viel trinkt, nicht darüber im Bilde ist, dass jener seit gut zwei Jahren geschieden ist. In einer anderen, herzerwärmenden Szene wird Gu Wentong, nachdem sein Mitbewohner, ein angehendes Model, ihn in den frühen Morgenstunden durch sein Catwalk-Training weckt, von diesem eröffnet, dass er abermals Probleme habe, die Miete zu bezahlen. Und das, obwohl er bereits Schulden bei Gu Wentong angehäuft habe, der nach seiner Scheidung die Wohnung seiner verstorbenen Mutter bezog und das andere Zimmer an das angehende Model untervermietet. Kurz darauf bricht der junge Mann in Tränen aus, und wir sehen Gu Wentong in einer der wenigen physischen Szenen des Filmes, in den er seinen jungen Mitbewohner in den Arm schließt, während dieser wehklagend verlautbart, dass es nicht einfach ist, in Beijing zu überleben.
Die im Fokus der Geschichte stehende Beziehung zwischen Gu Wentong und der gut zwanzig Jahre jüngeren Ouyang Wenhui, die sich uns in ihrer Uneindeutigkeit erstmals bei einem Feierabend-Drink eröffnet, behält sich ebenso eine unausgesprochene Distanz bei. Während im Saal nebenan Lee Chang-dongs Burning gezeigt wird (womit Zhang Lü seinem alten Freund, der ihm einst dabei half, seine Filmkarriere zu beginnen, Tribut zollt), betrinkt sich Gu Wentong auf unbeholfene Weise im Beisein Ouyang Wenhuis, unfähig, die Neuigkeiten über seinen Vater, der über einen solch langen Zeitraum nur in Form von Abwesenheit existierte, zu verarbeiten. Als wir Gu Wentong ein paar Szenen später, begleitet von seiner Fotografin und Freundin welcher Art auch immer, durch das nächtliche Beijing torkeln und eine wie ein vorzeitliches Relikt daherkommende Telefonzelle in Beschlag nehmen sehen, ist offensichtlich, wen er nun gedenkt anzurufen. Ob es Gu Wentongs Überraschung darüber ist, dass sein Vater den Anruf tatsächlich entgegennimmt, oder aber es die Unmittelbarkeit dessen Stimme ist, lässt sich nicht sagen, festhalten lässt sich lediglich, dass Gu Wentong nicht in der Lage ist, auch nur einen Ton zu erzeugen. Seine Seite des Telefonats bleibt stumm, und so verhallt schon bald – nachdem Gu Yunlai, unwissend und doch, so scheint es fast, als ob auf übersinnliche Weise ahnend, einen ganzen geschlagenen Moment auf ein akustisches Signal seines Sohnes wartet – das elektrische Tuten, das ertönt, sobald das Telefonat beendet wird. Es ist ein Ton, der sich wenig später an der Ampel eines Straßenübergangs wiederholt und darauf auch im Score refiguriert, ganz als würde dieser Moment Gu Wentong fortan nicht mehr loslassen.
Wenngleich Beijing das Zentrum der Geschichte darstellt, entwickelt sich Beidahe von diesem Moment an zum über allem schwebenden Zielort, womit sich Zhang Lü thematisch seinen früheren Werken annähert. Dass Gu Wentong letztlich nach Beidahe reisen wird, daran besteht im Grunde niemals ein Zweifel, weitaus mehr indes daran, wer oder was ihn letztlich dazu bringt, diese anzutreten und dem Vater zu begegnen, den er und seine Schwester über all die Jahrzehnte gemieden haben. An diesem Punkt kommt Ouyang Wenhui, die aus Beidahe stammt – ein Umstand, der sich, so man geneigt ist, solchen Zufällen Bedeutung beizumessen, buchstäblich als wegweisend für Gu Wentongs Zusammenführung mit Vater Gu Yunlai ausnimmt.
Obzwar Zhang Lü seinem Protagonisten somit den Weg dieser Geschichte denkbar klar vorzeichnet, ist The Shadowless Tower alles andere als ein Versöhnungsdrama, das in Gu Wentongs Reunion mit seinem Vater auf seinen dramaturgischen Höhe- bzw. Endpunkt zuläuft. Der Weg, den Zhang Lüs höflicher Protagonist über die fast zweieinhalbstündige Laufzeit beschreitet, bemisst sich nicht etwa an der fast 300 km lange Strecke von Beijing nach Beidahe, vielmehr handelt es sich um eine innere Reise, die Gu Wentong wegführt von seinem Phlegma und dem emotionalen Abstand zu seiner Mitwelt. Die unzähligen Spiegelbilder, in denen Zhang Lü seine Welt inszeniert, bezeugen auf diese Weise jene geistige Reise Gu Wentongs und lassen sie in ihrer Reflektion noch realer werden. Es ist Zhang Lüs Virtuosität zu verdanken, dass durch kleinste Ausbrüche aus dem Alltag das Prosaische plötzlich ins Poetische umschlagen kann, ohne dass sich daraus Banalität oder Kitsch ergäbe. Irgendetwas Ungesagtes scheint die Szenerie stets zu umschweben, und es ist vermutlich dieses permanent Ungesagte, das Zurückgehaltene, das jene Szenen, in denen sich eine Figur der anderen anvertraut, mit so großer emotionaler Wucht auflädt.
Die vermutlich eindringlichste Szene des Filmes in dieser Hinsicht ist vermutlich jene, die uns in rascher Folge gegenüberstellt, wie jenes erstes Treffen zwischen Gu Wentong und Gu Yunlai (gespielt vom chinesischen Regisseur Zhuangzhuang Tian, The Blue Kite) zuerst in seinem Traum Gestalt annimmt, und wie sich jene Szene in der Realität abspielt. In einer dieser beiden Szenen liegen sich Vater und Sohn zu einem alten Folk-Song tanzend in den Armen, während wir in der anderen Gu Wentong dabei beobachten, wie er seinen Vater mit den Vorwürfen bezüglich des Vorfalls überschüttet, aufgrund dessen seine Mutter ihn seinerzeit vom Hof jagte. Eine besondere Hellsichtigkeit drückt sich in dieser Gegenüberstellung der Szenen aus, obgleich (oder insbesondere deshalb, weil) es bis zuletzt im Ungewissen bleibt, ob nicht auch jene Szene, die durch Zhang Lü als real markiert wird, nur eine weitere Fabrikation darstellt. Zum Ende hin häufen sich bestimmte narrative Markierungen, die fast wie Macken (glitches) erscheinen – Elemente, die scheinbar ihrer Position oder ihrer Zeit verrückt wurden, und von Zhang Lü gleichsam aufgegriffen werden in dem Versuch, eine Gegenwart zu schaffen, in der all die Möglichkeiten dessen aufleuchten, was hätte sein können und was womöglich noch sein wird.
Fazit
Zhang Lü gelingt mit The Shadowless Tower eine narrative Suchbewegung größter Poetizität; ein Drama, dessen gewichtige Themen es eigentlich auf den Grund schleifen müssten und in denen Zhang Lü dennoch das Potenzial spielerischer Leichtigkeit entdeckt, sodass es sich, wenn der Abspann läuft und in unseren Köpfen die Melodie Auld Lang Synes widerhallt, beinah so anfühlt, als habe Zhang Lü das schier Unmögliche vollbracht: Ein Stück leben auf Film zu bannen.
Autor: Patrick Fey