Der Film von Harry Kümel ist bis heute der erfolgreichste, belgische Exportschlager. Bemerkenswert, dass er trotzdem so unbekannt und auch unterbewertet ist. Denn "Blut an den Lippen" ist ein außergewöhnlicher Genrefilm, der so viele Stilrichtung kreuzt, auf eine sehr avantgardistische Art und Weise, eigentlich müsste so ein Werk viel mehr Beachtung verdienen. Ein unglaubliches Crossover aus 70er Ex- und Sexploitation Grindhousekino, dabei handwerklich so grandios, anspruchsvoll und subtil inszeniert, das es leicht an den wenige Jahre später erschienenen Klassiker "Wenn die Gondeln Trauer tragen" erinnert.Die Mischung aus sexuellem Befreiungskino, Horror und Arthouse-Anspruch scheint sehr gewagt, gerade dadurch bezieht "Blut an den Lippen" seinen einzigartigen Reiz, ist (heute ohnehin nicht) kaum kopierbar und ein Unikum für sich.
Eine wahnsinnig ausgeklügelte, perfekte Inszenierung trifft explizite Erotik, bewusste Stilbrüche (Homoerotik auf beiden Seiten), und ein klares Statement zu den spießigen Nachkriegsrollenbildern der 50er und frühen 60er. Der Mann als unantastbares Alphatier wird abgelöst, langsam, aber konsequent. Zum besseren Verständnis, starten wir am Anfang: Wir sehen ein frisch verheiratetes, wild-vögelndes Ehepaar, auf der Heimreise zu "der Mutter" (super!), das sich mit einem Zwischenstop in der flämischen Provinz begnügen muss. Das unbekümmerte, sexuell tüchtige Honeymoon-Feeling wird durch die äußerst gut konservierte Baronin und ihre lüsternde Sekräterin gehörig aufgemischt. Dazu gibt es unerklärliche Morde mit erstaunlich wenig Blut, aber offenen Kelen, was stimmt da wohl nicht? Richtig...
Harry Kümel inszeniert einen eigentlich typischen, erotisch wie trashig angehauchten Genrefilm der 70er, aber will und schafft viel mehr. Denn "Blut auf den Lippen" ist extrovertiertes Ausnahmekino, das viel Mut, Inspiration und Können erfordert. Kümel scheiter nicht, er adelt es. Seine Bildsprache, generell das Zusammenspiel von Optik, Akustik und Stimmung, ist sagenhaft. Selbst seiner ruhig-bedachten ersten Hälfte zaubert er so eine subtil-spannende Bedrohung auf die Visage, einnehmend und faszinierend. Was noch so folgen wird, ist jederzeit angedeutet, nur explodiert dieses Werk erst im letzten Drittel. Dann immer noch bedacht und überlegt, der durchschnittliche Horrorfan (keine Abwertung, nur eine Feststellung) sollte vorgewarnt sein. Wer auf Bodycount, Blut und (offensichtlichen) Terror hofft, ihr seit raus. Es gibt in dem Film nur wenig Figuren, viel Raum zum Sterben bleibt da nicht. Darum geht es auch gar nicht.
"Blut an den Lippen" bezieht seine Faszination nicht aus dem "10 kleine Negerlein"-Prinzip, sondern aus seiner Atmosphäre und dem Subtext. Devotes, erotisches Rollengehabe und Machtgefüge, stimmig verpackt in die Vampir-Mythologie, die sich irgendwann diese Methode (Verführung = Horror) angeeignet hat, was ursprünglich gar nicht so gedacht war. Es nahm seinen Anfang wohl bei Bela Lugosi und seiner kühl-verführerischen Art, steigert sich durch Christopher Lee und spätestens ab dann, war der Vampir ein Gleichniss für die morbide Konstellation aus Tod, ewigen Leben, Lust, Begierde und der tragischen Quintessenz: Du kannst (musst) ewig Leben, aber kannst (praktisch) nie ewig lieben und begehren.
"I want to be loved. I want everybody to love me. Do you love me Valerie, don't you?"
"Blut auf den Lippen" ist anspruchsvolles, exzentrisches Genrekino ohne einfache Schockeffekte und Who-will-be-next-Momente, er lauert, reizt und verzaubert durch seine wunderbare Bildsprache, seine grandios-subtilen Spannungs-Sequenzen und seinen selbstauferlegten, aber kompromisslos-getroffenen Anspruch, der jede Minute zu einem Genuss macht.
Diese Kritik ist auch auf DieDreiMuscheln erschienen.