Inhalt
Frank Lange, zweifacher Familienvater, um die 40 und aus der gutbürgerlichen Mittelschicht wird wie aus dem Nichts mit einer niederschmetternden Diagnose konfrontiert: Hirntumor, bösartig und inoperabel. Lebenserwartung trotz Bestrahlung und Chemotherapie ungewiss, irgendwas im Bereich zwischen wenigen Monaten und vielleicht 1-2 Jahren. Frank, seine Frau Simone und die 8 und 14jährigen Kinder versuchen mit dem Schock so gut es möglich ist umzugehen, ein normales Familienleben aufrecht zu erhalten. Eine schier unmögliche Aufgabe.
Kritik
Filme, die eine schwere Krankheit und/oder den Prozess des Sterbens behandeln, können schnell in Richtung rührseligen Betroffenheits-Tourismus gehen, bei dem dem Zuschauer auf Kosten tragischer Schicksalsschläge das Taschentuch mit beiden Händen fest durchs Gesicht gerieben wird oder – fast noch schlimmer – alles als halb so wild bagatellisiert wird, solange man nicht das Lachen und die Lebensfreude verliert. Das bisschen Sterben, come on. Viele dieser verunglückten Exemplare wollen das natürlich gar nicht, stranden aber irgendwann dort, was dieses hochsensible Thema zu einer der Königsklassen der – wenn man so will – Filmgenres macht. Andreas Dresen (Halbe Treppe) gelingt mit seinem vielfach ausgezeichneten Halt auf freier Strecke ein Musterbeispiel dieser äußerst diffizilen Gattung, macht ihn gar zu einem der wichtigsten deutschen Filme der jüngeren Vergangenheit.
Man kommt wegen Kopfschmerzen und wird quasi zwischen Tür und Angel mit dem eigenen Todesurteil konfrontiert: Frank Lange (herausragend: Der viel zu oft als spleeniger Schweighöfer-Sidekick verkloppte Milan Peschel, Der Nanny) wird mit ärztlicher Routine und steriler Katalog-Empathie berichtet, dass die Ursache für seine Kopfschmerzen ein inoperables Glioplastom ist, sprich ein bösartiger Hirntumor. Er wird sterben, das steht medizinische Wunder ausgeklammert praktisch gar nicht mehr zur Debatte, die Frage ist nur wann und auf welche Weise sich der Weg dorthin gestalten wird. Eine Schockdiagnose, die ihn und seine Frau Simone (nicht weniger brillant: Steffi Kühnert, Hotel Lux) trifft wie ein Sack Zement beim Einradfahren. Noch heftiger: Sie müssen den Sack fangen und damit die Strecke beenden, optional ist da nichts. Denn da sind schließlich noch die Kinder, gerade ist man in das lange ersehnte, eigene Häuschen gezogen und an und für sich geht es Papa doch noch ganz gut, warum sollte das plötzlich so schnell ganz anders werden? Mehr als sich kräftig schütteln bleibt ihnen zunächst nicht übrig, schließlich geht das Leben doch noch irgendwie weiter. Muss halt. Bis die ersten Symptome auftreten und der ungebetene Gast nicht mehr nur mit dem Wir-schaffen-das-schon-Mut beiseite und aufgeschoben werden kann.
Die Prozess-Lawine rollt los. Zunächst rasant, dann verzögernd, bald schleppend und dann schubweise immer wieder so drastisch, dass sich das Ende mitunter wie eine Erlösung anfühlen kann. Und auch darf. Auch das zeigt Halt auf freier Strecke. Beginnend mit dem Schock, dem mühseligen Realisieren, der Verzweiflung und der trotzigen Pseudo-Akzeptanz, immer darum bemüht den familiären Alltag so lange wie möglich so normal wie möglich zu gestalten. Was zunächst noch halbwegs zu gelingen scheint, bis eben diese angebliche Akzeptanz auf mehrere, knüppelharte Proben gestellt wird. Der Verfall ist nicht aufzuhalten, es äußert sich teilweise komplett unvorbereitet und in einem nicht zu kalkulierendem Ausmaß. Wie fragile jede noch so lapidare Situation ist, wie urplötzlich sie zu einer emotionalen Zerreisprobe werden kann ist noch recht harmlos skizziert bei dem Aufbau eines Hochbettes für den 8jährigen Sohn und selbst das geht schon an die Nieren. Es ist erst der Anfang.
Jenseits von affektiertem Tränenzieher-Wischiwaschi-Kino schildert Andreas Dresen mit nüchterner, realitätsorientierter Stilistik eine glaubhafte Familientragödie, die jeden von uns genauso jederzeit treffen kann, egal was wir bis dahin mit unserem Leben veranstaltet haben. Welchen Status wir (meinen zu) besitzen und woher wir kommen, für manche Situationen gibt es keinen Ausweg. Genauso wenig wie einen klugen, allgemeingültigen Ratgeber, wie damit umzugehen ist. Man kann Tipps und Ratschläge von Fachleuten annehmen (von denen dieser sich sehr nahe am Leben befindender Film wirklich viele sehr brauchbare bereithält), letzten Endes ist aber jeder Einzelfall nicht zu pauschalisieren. Auch das schildert Halt auf freier Strecke, frei von belehrender Besserwisserei. Die Hürden, Probleme und auch die Wut die entstehen kann, auch wenn der Betroffene oft selbst am wenigsten dafür kann. Es ist ein Film der zwischen fast objektiver, ehrlicher (trotzdem natürlich noch fiktiver, aber kaum als solches wahrzunehmender) Berichterstattung und erschütternder Tiefschläge immer noch rührende, hoffnungsvolle und jederzeit lebensbejahende Momente findet; der trotz seiner ungeschönten Dramaturgie und dem kaum gelinderten Schmerz keine Angst vor dem Tod schürt. Nur eben das Sterben nicht verharmlost, so paradox das im ersten Moment klingen mag.
Fazit
„Halt auf freier Strecke“ sollte eigentlich mit einem kleinen Warnhinweis versehen werden, wenn sich nicht jeder zwingend diesen ungemein wichtigen Film ansehen müsste. Er betrifft uns irgendwo alle. Auch die, die hoffentlich von derart drastischen Krankheitsverläufen verschont bleiben, sei es aktiv oder passiv. Denn sterben müssen wir definitiv alle, wie wir alle definitiv irgendwann jemand gehen lassen müssen, den wir sehr lieben. Dieser Film kann tatsächlich dabei helfen. Zumindest behandelt er dieses Thema in all seinen Facetten so behutsam, trotzdem knallhart ehrlich und immer unglaublich menschlich, er sollte Pflichtprogramm werden. Nicht nur an der Schule, gewisse Dinge lernt man nur im Leben selbst, manchmal auch auf die harte Tour.
Autor: Jacko Kunze