Thomas Harris muss es echt nötig gehabt haben, anders lässt sich das hier kaum erklären. Eigentlich war sein Roman-Zyklus um die eloquente Bestie in Menschengestalt Hannibal Lecter abgeschlossen. Nachdem die Verfilmung von „Hannibal“ sowie die kurz darauf folgende Neuauflage von „Roter Drache“ (bereits 1986 erfolglos von Michael Mann als „Blutmond - Roter Drache“ bzw. „Manhunter“ adaptiert) große Erfolge an den Kinokassen waren, sah er sich wohl in der (kommerziellen) Pflicht, die Kuh weiter zu melken. Anstatt die theoretisch durchaus noch fortsetzbare Geschichte um Hannibal und Clarice Starling weiterzuführen, brachte er mit „Hannibal Rising - Wie alles begann“ die Vorgeschichte heraus, schrieb für diesen gleich im Anschluss entstandenen Film auch direkt das Skript. Damit hat er sich und vor allem uns einen Bärendienst erwiesen.
Es stellt sich generell immer die Frage, ob so ein Prequel überhaupt Sinn macht. Sicherlich wollen einige Fans wissen, wie und warum Hannibal zu dem wurde, was er ist. Damit geht man jedoch gleichzeitig ein großes Risiko ein: Die Entmystifizierung einer so bedrohlichen Figur, das kreieren von Motiven und Beweggründen nimmt ihr einen nicht unerheblichen Teil ihres Schreckens. Hannibal Lecter verkörperte das unfassbare Böse, ein Monster voller Gegensätze. Einerseits hochintelligent, gebildet, kultiviert, angepasst und integriert in die Gesellschaft, andererseits von einer animalischen, primitiven Brutalität und Gewissenlosigkeit gekennzeichnet. Nicht zu analysieren, nicht zu knacken oder zu therapieren, ein gefährliches Raubtier, das sich seiner Taten und deren Folgen nicht nur voll und ganz bewusst ist, sondern genau das sogar geniest, aus (bisher) unerklärlichen Gründen. „Hannibal Rising - Wie alles begann“ liefert nicht nur diese Gründe, auch das Motiv des Kannibalismus findet hier seinen Ursprung. Wer das unbedingt gebraucht hat, bitte schön, für den Rest der Fangemeinde werden hiermit Puzzleteile eingefügt, die man nicht vermisst hätte. Selbst unabhängig davon – und das ist das echte Problem –, der Film an sich ist in allen Belangen eine einzige Unverschämtheit.
Das von Harris selbstverfasste Drehbuch ist unglaublich träge, walzt eine unspektakuläre und spannungsarme Rachestory (ein Eat & Revenge-Thriller, ganz neues Genre…) auf über zwei Stunden aus, wobei sie inhaltlich kaum schlichter sein könnte. Hannibal erlebt grausames im zweiten Weltkrieg, flüchtet als Teenager (nun verkörpert von Gaspar Ulliel, „Yves Saint Laurent“) nach Frankreich, wird dort von der jungen Witwe seines Onkels (Gong Li, „Die Geisha“) in die Kunst des Schwertkampfs und der asiatischen Mythologie eingeführt und beginnt danach, gezielt seine damaligen Peiniger aufzuspüren um Vergeltung zu üben. Fertig. Zwischen den recht brutalen Mordszenen wird die psychologische Entwicklung seiner Hauptfigur nicht näher erläutert, er wird mit der Zeit einfach nur skrupelloser und abgebrühter, immer angetrieben von seinen traumatischen Erinnerungen und seinem steigenden Blutdurst. Natürlich waren auch die Vorgängerromane- und Filme in der Hinsicht keine komplexen Meisterwerke, schafften jedoch neben spannenden, gut konzipierten Geschichten eine immense Faszination für seine Hauptfigur. All das geht diesem Teil völlig ab, dessen platte Handlung sich müde dahinschleppt und zu allem Überfluss auch noch Hannibal Lecter als blasses Männlein im Walde mit blutverschmierter Schnute bald der Lächerlichkeit preisgibt. Gaspar Ulliel mag sich bemühen, versinkt in den übergroßen Fußstapfen eines Anthony Hopkins („Das Schweigen der Lämmer“) dabei kläglich.
Ulliel sprüht nicht gerade vor Charisma und verfällt im weiteren Verlauf auch noch in ein unglaubwürdiges, übertriebenes Schauspiel, das einer Karikatur sehr nahe kommt. Wann immer er besonders wahnsinnig und furchterregend wirken will, setzt er diesen Irre-Typen-Blick auf: Kopf senken, Blick trotzdem nach vorne gerichtet und dazu bescheuert Grinsen. Das kann man vielleicht einmal machen, aber doch nicht immer. Sein Hannibal Lecter wirkt nicht bedrohlich, er wirkt albern, kindisch, wie ein wütender Waschlappen, dessen grausame Taten nicht zu einem drolligen Auftreten passen mögen. Dieses brachiale Overacting betreibt auch Rhys Ifans („The Amazing Spiderman“) als ehemaliger Nazi-Kriegsverbrecher gnadenlos, schlabbert durchgeknallt seinen Opfern durchs Gesicht, was zum eigentlich angepeilten, ernsten Tonfall der Geschichte in einem nicht zu vereinenden Kontrast steht. In einem auf Edel-Trash gebürsteten „Hannibal“, mit rieseigen Killerschweinen und zu lebendigem Hackfleisch verarbeiteten Millionären im Rache-Modus, wäre das kein Problem, in einem eh schon deplatzierten „Hannibal Rising - Wie alles begann“ hat das nichts verloren. Am Ende wissen wir nun, dass Hannibal auch mal ein lieber, kleiner Junge war, durch den Krieg seine Menschlichkeit verloren hat und mal wieder die Nazis die Wurzel allen Übels sind. Selbst am Kannibalismus sind sie schuld. Aha, vielen Dank dafür.